Schöne neue Welt
Zweisamkeit von dem verrückten Schwarzen gefangengehalten. Doch endlich gelang es drei stattlichen Alphajünglingen nach beträchtlichen Abenteuern und akrobatischen Kunststücken, die Blonde zu retten. Der Neger wurde in eine Wiederaufnormungsanstalt gesteckt, und der Film endete glücklich und geziemend damit, daß die blonde Beta allen drei Befreiern ihre Liebe schenkte, wobei sie noch ein kurzes synthetisches Quartett mit voller Massenorchesterbegleitung sangen; die Duftorgel spielte dazu Gardenien. Noch einmal erschien das Bärenfell auf der Leinwand, und unter Sexofongeschmetter wurde der letzte stereoskopische Kuß ausgeblendet, das letzte elektrische Kitzeln erstarb auf den Lippen gleich einer Motte, die schwächer und schwächer zuckt und sich endlich nicht mehr rührt.
Für Lenina war die Motte nicht völlig tot. Als schon die Lichter wieder aufgeflammt waren und sie sich langsam inmitten der Menge zu den Aufzügen schoben, geisterte das flatternde Insekt noch immer auf ihren Lippen, verursachte noch immer Schauer angstvollen Lustgefühls auf ihrer Haut. Ihre Wangen glühten, ihre Augen schimmerten feucht, ihr Atem ging schwer. Sie drückte den schlaffen Arm des Wilden an sich. Er blickte eine Sekunde auf sie nieder, bleich, voll Schmerz und Begierde und voll Scham über seine Begierde. Er war nicht würdig, nicht... Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Welche Wonne ihre Augen verhießen! Dieses unerhörte Temperament. Hastig sah er weg und befreite seinen gefangenen Arm. Eine dunkle Angst erfüllte ihn, sie könnte aufhören, etwas zu sein, dessen er sich unwürdig fühlte.
»Meiner Meinung nach sind solche Sachen nichts für Sie«, sagte er und schob so die Schuld an vergangenen oder etwaigen zukünftigen Entgleisungen seines Ideals hastig von Lenina auf die Umwelt, in der sie lebte.
»Was für Sachen, Michel?«
»Wie dieser gräßliche Film.«
»Gräßlich?« Sie war ehrlich überrascht. »Ich fand ihn entzückend.«
»Er war niedrig«, sagte er entrüstet, »unedel.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht.« Warum war er so merkwürdig, warum wollte er mit Gewalt alles verderben? Im Lufttaxi sah er sie kaum an. Gebunden durch heilige Eide, die er nie ausgesprochen hatte, und Gesetzen verpflichtet, die schon längst außer Kraft geraten waren, saß er schweigend abgewandt. Manchmal durchlief ein nervöses Zucken seinen ganzen Körper, als hätte ein Finger an einer zum Reißen gespannten Saite gezupft.
Der Taxikopter hielt auf dem Dach von Leninas Appartementhaus. Endlich! dachte sie frohlockend beim Aussteigen. Endlich! - wenn er auch gerade so merkwürdig gewesen war. Im Schimmer einer Lampe blickte sie in ihren Taschenspiegel. Endlich! Ja, ihre Nase glänzte ein wenig. Sie schüttelte den lockeren Puder von der Quaste. Gerade Zeit genug, während er das Taxi zahlte. Sie wischte über die glänzende Stelle. »Er ist schrecklich hübsch«, dachte sie dabei. »Er brauchte wirklich nicht so schüchtern zu sein wie Sigmund. Und doch... Jeder andere Mann hätte es schon längst getan. Aber jetzt, endlich!« Das Stückchen Gesicht in dem runden Spiegel lächelte sie plötzlich an.
»Gute Nacht«, sagte eine erstickende Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum. Er stand in der Tür des Taxikopters, den starren Blick auf sie geheftet. Wahrscheinlich hatte er sie schon die ganze Zeit, während sie ihre Nase puderte, angestarrt und gewartet - aber worauf? - , hatte gezögert, hatte einen Entschluß zu fassen versucht und die ganze Zeit über nachgedacht, nachgedacht - sie konnte sich nicht vorstellen, über welche ungewöhnlichen Dinge. »Gute Nacht, Lenina«, wiederholte er mit seltsam verzerrtem Gesicht und einem Versuch, zu lächeln.
»Aber Michel... Ich dachte, Sie wollten... Kommen Sie denn nicht...?«
Er schloß die Hubschraubertür und beugte sich vor, um dem Piloten etwas zu sagen. Das Taxi schoß in die Luft empor.
Durch das Fenster im Boden konnte der Wilde Leninas aufwärts gewandtes blasses Gesicht im bläulichen Lampenschimmer erblicken. Ihr Mund war geöffnet, sie rief etwas. Ihre verkürzte Gestalt entschwand sehr schnell, das kleiner werdende Dachviereck schien durch die Nacht zu stürzen.
Fünf Minuten später war er daheim. Aus einem Versteck holte er das von den Mäusen benagte Buch hervor, wandte mit frommer Scheu die fleckigen, verknitterten Seiten und begann »Othello« zu lesen. Auch Othello war ein Schwarzer - wie der Held in »Drei Wochen im
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