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Schöne neue Welt

Schöne neue Welt

Titel: Schöne neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
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Helikopter«.
    Lenina trocknete sich die Augen und ging über das Dach zum Aufzug. Auf der Fahrt ins sechsundzwanzigste Stockwerk hinab zog sie ihr Somafläschchen hervor. Ein Gramm, entschied sie, genügte nicht; ihr Kummer wog schwerer als ein Gramm. Doch wenn sie zwei Gramm nahm, konnte es geschehen, daß sie am nächsten Morgen nicht rechtzeitig erwachte. Sie wählte den Mittelweg und schüttelte drei Halbgrammtabletten in die hohle Linke.

Zwölftes Kapitel
    Der Wilde wollte nicht öffnen, Sigmund mußte durch die verschlossene Tür schreien.
    »Alle sind schon da und warten auf Sie!«
    »Lassen Sie sie warten!« kam es undeutlich zurück.
    »Aber Michel, Sie wissen doch genau« - wie schwer war es, jemanden zu überreden, wenn man dabei aus Leibeskräften brüllen mußte! - »daß ich die Leute eigens eingeladen habe, damit die Sie kenne nlernen.«
    »Dann hätten Sie mich vorher fragen sollen, ob ich die Leute kennenlernen will.«
    »Sie sind doch sonst immer gekommen, Michel.«
    »Eben deswegen komme ich nicht mehr.«
    »Mir zuliebe«, brüllte Sigmund schmeichelnd. »Wollen Sie nicht mir zuliebe kommen?«
    »Nein.«
    »Ist das Ihr Ernst?«
    »Ja.«
    »Aber was soll ich jetzt nur tun?« jammerte Sigmund verzweifelt.
    »Zum Teufel gehen!« schrie die Stimme wütend zurück.
    »Aber der Erzchormeister von Köln ist heute abend persönlich erschienen.« Sigmund weinte fast.
    »Ai yaa takwa!« Nur auf zuni konnte der Wilde seinen Gefühlen gegen den Erzchormeister gebührenden Ausdruck verleihen. »Hani!« setzte er nach einiger Überlegung hinzu, und dann noch, mit wildem Spott: »Sons eso tse-na!«
    Er spuckte auf den Boden, wie Pope es getan hätte.
    Zuletzt blieb Sigmund nichts anderes übrig, als zerknirscht in seine Wohnung zurückzukehren und seinen ungeduldigen Gästen zu erklären, daß der Wilde an diesem Abend nicht erscheinen werde. Allgemeine Entrüstung.
    Die Männer waren wütend, weil sie sich hatten hinreißen lassen, zu dieser Null, diesem anrüchigen Ketzer, höflich zu sein. Je höher ihre Stellung in der Hierarchie, desto tiefer der Groll.
    »Und das mir, das mir!« wiederholte der Erzchormeister immer wieder. »Mir!«
    Den Damen wurde zu ihrer Entrüstung klar, daß sie sich durch Vorspiegelungen hatten herumkriegen lassen, und das von einem kleinen Unhold, dem man versehentlich Alkohol in die Flasche geschüttet hatte, einem Kerl, der aussah wie ein Gamma-minus. Es war unerhört, und sie sagten das auch, sagten es immer lauter. Die Oberlehrerin von Pforta wurde besonders ätzend.
    Nur Lenina sagte nichts. Blaß, die Augen von ungewohnter Schwermut umwölkt, saß sie in einer Ecke, von den aufgeregten Gästen durch ein Gefühl getrennt, das jene nicht teilten. Mit seltsam ängstlicher Vorfreude war sie auf dieser Abendgesellschaft erschienen. »Wenige Minuten noch«, hatte sie sich beim Betreten des Raumes gesagt, »dann werde ich ihn sehen, mit ihm sprechen und ihm sagen« - mit diesem festen Entschluß war sie gekommen »daß ich ihn liebhabe, lieber als sonst wen auf der Welt.
    Und dann wird er vielleicht sagen...«
    Was würde er sagen? Das Blut war ihr in die Wangen gestiegen.
    »Warum nur war er gestern abend, nach dem Fühlkino, so seltsam? So merkwürdig? Ich weiß doch ganz genau, daß er mich recht gut leiden kann. Ganz genau -«
    In diesem Augenblick eröffnete Sigmund der Gesellschaft, daß der Wilde nicht kommen werde.
    Lenina fühlte sich plötzlich allen Empfindungen ausgeliefert, die man sonst nur am Anfang einer Beha ndlung mit dem Ersatz für tolle Leidenschaft durchlebte: grauenhafter Leere, atemberaubender Angst, Übelkeit. Ihr Herzschlag setzte aus.»Vielleicht, weil er mich nicht mag«, sagte sie sich, und sogleich wurde diese Vermutung zu unumstößlicher Gewißheit: Michel kam nicht, weil er sie nicht mochte. Weil er sie nicht mochte...
    »Na, das ist denn doch stark!« sagte die Oberlehrerin von Pforta zum Krematoriums- und Phosphorwiedergewinnungsdirektor. »Wenn ich bedenke, daß ich mich tatsächlich von ihm -«
    »Ja«, hörte man Stinni Braun sagen, »das mit dem Alkoholgehalt ist ganz bestimmt wahr. Eine Bekannte von mir hat eine Bekannte, die damals gerade im Embryonendepot arbeitete. Und die erzählte meiner Bekannten, und meine Bekannte erzählte mir -«
    »Unverzeihlich, wirklich unverzeihlich«, sagte Henry Päppler teilnahmsvoll zum Erzchormeister. »Es wird Sie interessieren, daß unser ehemaliger Direktor nahe daran war, ihn nach Island zu

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