Schöne neue Welt
der Anderen Welt außerhalb der Reservation erzählte, der über alle Maßen herrlichen Anderen Welt, die in seiner Erinnerung heil und ganz war wie ein Himmel oder ein Paradies der Tugend und Schönheit, makellos rein trotz der Begegnung mit der Wirklichkeit Berlins und seiner zivilisierten Bewohner.
Ein schrilles Geschrei erhob sich plötzlich; er öffnete die Augen, wischte hastig die Tränen weg und sah sich um.
Ein scheinbar endloser Strom identischer achtjähriger Simultanbrüder ergoß sich in den Saal. Dutzendling auf Dutzendling, einer nach dem anderen - es war ein Alptraum. Ihre Gesichter, ihr endlos vervielfältigtes Gesicht, denn sie hatten alle ein und dasselbe, starrten koboldhaft, nichts als Nasenlöcher und blasse, vortretende Augen.
Ihre Uniform war khakifarben. Allen stand der Mund offen. Quiekend und schnatternd ergossen sie sich in den Saal, der im Nu von ihnen zu wimmeln schien. Sie schwärmten zwischen den Betten umher, kletterten über sie, krochen unter sie, stierten in die Fernsehapparate und schnitten den Patienten Gesichter.
Filine versetzte sie in Staunen und beträchtlichen Schrecken. Eine Gruppe stand, zum Klumpen geballt, zu Füßen ihres Bettes und glotzte mit der verstörten, blöden Neugier von Tieren, die sich plötzlich dem Unbekannten gegenübersehen.
»Oh, guck mal, guck doch mal!« Sie sprachen gedämpft und eingeschüchtert. »Was hat sie nur? Warum ist sie so dick?«
Noch nie hatten sie ein Gesicht gesehen, das gleich diesem nicht mehr jugendlich und glatthäutig war, noch nie einen Körper, der nicht mehr schlank und elastisch war.
Alle diese sterbenden Sechzigerinnen sahen aus wie Sechzehnjährige. Filine mit ihren vierund vierzig erschien dagegen wie eine Ausgeburt von Greisenhaftigkeit und Entstellung.
»Ist sie nicht gräßlich?« flüsterten sie. »Seht ihre Zähne an!«
Plötzlich tauchte, unter dem Bett hervor, ein mopsgesichtiger Dutzendling zwischen Michel und der Wand auf und starrte der schlafenden Filine ins Gesicht.
»Also, so was -«, begann er, aber seine Worte brachen mit einem Quieken ab. Der Wilde hatte ihn beim Kragen gepackt, ihn über den Stuhl auf die andere Seite gehoben und ihm eine tüchtige Ohrfeige versetzt. Nun jagte er den Heulenden davon.
Auf sein gellendes Geschrei kam die Oberpflegerin zur Rettung herbeigeeilt.
»Was haben Sie ihm getan?« fragte sie erbost. »Sie haben die Kinder gefälligst nicht zu schlagen!«
»Dann halten Sie sie von diesem Bett fern!« Die Stimme des Wilden bebte vor Entrüstung. »Was hat dieses scheußliche Kroppzeug hier überhaupt zu suchen? Es ist schändlich!«
»Wieso schändlich? Die Kleinen werden aufs Sterben genormt, an den Anblick des Todes gewöhnt. Und ich mache Sie aufmerksam«, warnte sie in scharfem Ton, »wenn Sie sich noch einmal in die Normung einmischen, lasse ich Sie von den Wärtern hinauswerfen.«
Der Wilde erhob sich und machte ein paar Schritte auf sie zu; seine Bewegungen und seine Miene waren so bedrohlich, daß die Pflegerin erschrocken zurückwich. Mühsam beherrschte er sich, drehte sich wortlos um und setzte sich wieder ans Bett.
Ruhiger, wenn auch mit ein wenig schrill und unsicher klingender Würde, sagte die Pflegerin: »Ich habe Sie gewarnt, also lassen Sie sich's gesagt sein!« Immerhin führte sie die allzu neugierigen Simultanbrüder weg und ließ sie an einem Zippsackspielchen teilnehmen, das eine ihrer Kolleginnen am anderen Ende des Saales veranstaltete.
»Laß gut sein, Schatz, und geh deine Mokkainlösung trinken«, sagte sie zu ihrer Kollegin. Die Ausübung ihrer Autorität gab ihr Selbstvertrauen und gute Laune wieder.
»Kommt, Kinder!« rief sie.
Filine bewegte sich unruhig, öffnete für eine Sekunde die Augen, sah ausdruckslos umher und schlief wieder ein.
Der Wilde neben ihr bemühte sich, seiner früheren Stimmung wieder habhaft zu werden. »A, B, c, Vitamin D«, murmelte er, als wären die Worte ein Zauberspruch, der die tote Vergangenheit zum Leben erwecken könnte. Aber der Zauber verfehlte seine Wirkung. Die seligen Erinnerungen weigerten sich hartnäckig wiederzukehren, nur Eifersucht, Häßlichkeit und Elend wurden wieder lebendig.
Pope, dem das Blut aus der Schulterwunde tropfte; Filines schlaf gedunsenes Gesicht und die summenden Fliegen um das verschüttete Mescal neben dem Bett; und die Jungen, die seiner Mutter Schimpfnamen nachriefen... Genug, genug! Er schloß die Augen und schüttelte den Kopf, wie um diese Erinnerung gewaltsam zu
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