Schöne neue Welt
modernen Komfort.
Die Luft war voll von munteren synthetischen Weisen. Am Fuß jedes Bettes, dem Sterbenden gegenüber, stand ein Fernsehapparat, der gleich einem aufgedrehten Wasserhahn von morgens bis abends lief. Alle Viertelstunde änderte sich automatisch das im Saal vorherrschende Parfüm. »Wir bemühen uns«, erklärte die Pflegerin, die den Wilden an der Tür in Empfang genommen hatte, »hier eine durch und durch angenehme Atmosphäre zu schaffen, eine Art Mittelding zwischen einem Luxushotel und einem Fühlfilmpalast, wenn Sie mich verstehen.«
»Wo ist sie?« fragte der Wilde, ohne diese höflichen Erklärungen zu beachten.
Die Pflegerin war gekränkt. »Haben Sie's aber eilig!« sagte sie.
»Ist Hoffnung vorhanden?« fragte er.
»Sie meinen, daß sie nicht stirbt?« Er nickte. »Nein, natürlich nicht. Wenn jemand erst einmal hierhergebracht wird, gibt es keine -« Von dem schmerzlichen Ausdruck seines bleichen Gesichts überrascht, brach sie plötzlich ab.
»Ja was haben Sie nur?« fragte sie. So etwas war sie von den Besuchern nicht gewöhnt. Übrigens kamen nicht viele Besucher; sie hatten auch keinen Grund zu kommen. »Sind Sie am Ende krank?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist meine Mutter«, sagte er kaum hörbar.
Die Pflegerin blickte ihn fassungslos und entsetzt an, dann schlug sie schnell die Augen nieder. Vom Hals bis an die Schläfen war sie glühend rot.
»Führen Sie mich zu ihr!« sagte der Wilde, angestrengt um einen normalen Tonfall bemüht.
Noch immer schamrot, führte sie ihn durch einen Saal.
Jugendfrisch gebliebene, faltenlose Gesichter - denn die Senilität galoppierte so rasch, daß sie keine Zeit fand, die Wangen altern zu lassen, nur Herz und Hirn - wandten sich den Vorübergehenden mit dem ausdruckslosen und gelassenen Blick der zweiten Kindheit zu. Der Wilde schauderte, als er sie sah.
Filine lag im letzten Bett der langen Reihe, gleich an der Wand. Durch Kissen gestützt, beobachtete sie die Endspiele der Riemannschen Feldtennismeisterschaft von Südamerika, die lautlos und verkleinert über die Bildfläche des Fernsehapparats zu Füßen des Bettes flimmerten.
Hierhin und dorthin über das Viereck aus hell erleuchtetem Mattglas flitzten die Figürchen gleich Fischen im Aquarium - stumme, aber aufgeregte Bewohner einer anderen Welt.
Filine sah mit verschwommenem, verständnislosem Lächeln zu. Ihr bleiches, aufgedunsenes Gesicht trug einen Ausdruck verblödeter Seligkeit. Von Zeit zu Zeit schlössen sich ihre Lider, und sie schien ein paar Sekunden zu dösen.
Dann erwachte sie mit einem kleinen Ruck, sah die Aquariumshechtsprünge der Tennischampions, hörte die Supervox-Orgel »Drück mich, entrück mich« spielen, roch den warmen Hauch von Verbena, der durch den Ventilator über ihrem Kopf kam, nahm alle diese Dinge wahr, oder vielmehr einen Traum, dessen wunderbare Bestandteile diese Dinge waren, aber verwandelt und verschönt durch das Soma in ihrem Blut. Und dann lächelte sie wieder ihr entstelltes, farbloses Lächeln kindischer Zufriedenheit.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte die Pflegerin. »Meine Simultankinder kommen. Außerdem habe ich Nummer drei dort«, sie wies in die Mitte des Saales, »der jede Minute abkratzen kann. Also, machen Sie sich's bequem!« Sie ging munter von dannen.
Der Wilde setzte sich neben das Bett.
»Filine!« flüsterte er und ergriff ihre Hand.
Beim Klang ihres Namens wandte sie den Kopf. Wiedererkennen leuchtete in ihrem unbestimmten Blick auf. Sie drückte seine Hand, lächelte, und ihre Lippen bewegten sich, aber plötzlich fiel ihr Kopf nach vorn. Sie war wieder eingeschlafen. Er saß da und betrachtete sie, suchte hinter dem müden Fleisch, suchte und fand jenes strahlende junge Gesicht, das sich über seine Kindheit in Malpais gebeugt hatte, entsann sich mit geschlossenen Auge n ihrer Stimme, ihrer Bewegungen und aller gemeinsamen Erlebnisse. »Hopp, hopp, hopp, Bazillchen lauf Galopp -« Wie schön sie gesungen hatte! Und welch geheimnisvoller Zauber in jenen Kinderreimen lag: A, B, c, Vitamin D, Das Fett ist in der Leber, Der Dorsch ist in der See.
Er fühlte heiße Tränen hinter seinen Lidern aufquellen, als er sich an diese Worte erinnerte und an Filines Stimme, die sie wiederholte. Und dann der Leseunterricht: »Die Maus kommt aus dem Haus. Der Ton kommt aus dem Fon.« Und der »Leitfaden der Embryonormung«. Die langen Abende am Herdfeuer oder, zur Sommerszeit, auf dem Hüttendach, wenn sie ihm Geschichten von
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