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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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würde, damit Alvis ungestört arbeiten konnte. Und so kam es, dass Alvis Bender in dem kleinen Zimmer im obersten Stock zum sanften Geplätscher der Wellen auf den Felsen endlich seine tragbare Royal auspackte. Er stellte die Schreibmaschine auf den Nachttisch unter dem Fenster. Er starrte sie an. Legte ein Blatt Papier ein und kurbelte es durch. Setzte die Hände auf die Tasten. Strich über die glatten Oberflächen und die aufgestanzten Buchstaben. Eine Stunde verging. Er stieg nach unten, um Wein zu holen, und stieß auf Carlo, der auf der Terrasse saß.
    »Wie läuft das Schreiben?« Carlo machte ein feierliches Gesicht.
    »Ehrlich gesagt, habe ich Probleme«, bekannte Alvis.
    »Womit?«
    »Mit dem Anfang.«
    Carlo überlegte. »Vielleicht könnten Sie zuerst den Schluss schreiben.«
    Alvis dachte an die verkehrte Skizze, die er bei Strettoia gesehen hatte. Natürlich: der Schluss zuerst. Er lachte.
    In der Annahme, dass sich der Amerikaner über seinen Vorschlag amüsierte, entschuldigte sich Carlo. »Che stupido che sono.« Wie dumm von mir.
    Nein, nein, beruhigte ihn Alvis, die Idee war brillant. Er hatte schon so lange über das Buch geredet und nachgedacht – fast als hätte er es irgendwie bereits geschrieben, als wäre es da , in der Luft, und er müsste nur noch den geeigneten Ort finden, um in den Strom seiner Geschichte einzutauchen. Warum sollte er nicht mit dem Schluss beginnen? Er rannte wieder hinauf und tippte die Worte: »Dann kam der Frühling und mit ihm das Ende meines Kriegs.«
    Alvis starrte diesen einen Satz an, der so seltsam bruchstückhaft und vollkommen war. Dann schrieb er noch einen Satz und noch einen, und bald hatte er eine Seite. An diesem Punkt angelangt, lief er die Treppe hinunter und trank ein Glas Wein mit seiner Muse, dem ernsten, bebrillten Carlo Tursi. Das wurde sein Belohnungsrhythmus: eine Seite tippen, ein Glas Wein mit Carlo trinken. Nach zwei Wochen hatte er zwölf Seiten geschafft. Erstaunt stellte er fest, dass er die Geschichte einer Frau erzählte, die ihm gegen Kriegsende bei einer flüchtigen Begegnung einen heruntergeholt hatte. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, diese Anekdote in seinen Roman aufzunehmen – weil er keinen Zusammenhang zu anderen Elementen sah –, doch auf einmal schien ihm das die einzige Geschichte, die wirklich zählte.
    An seinem letzten Tag in Porto Vergogna packte Alvis seine wenigen Seiten und die kleine Royal zusammen und verabschiedete sich von der Familie Tursi mit dem Versprechen, nächstes Jahr wiederzukommen und von nun an jedes Jahr zwei Wochen in dem kleinen Dorf zu verbringen, bis das Buch fertig war, und sollte es bis an sein Lebensende dauern.
    Dann ließ er sich von einem Fischer nach La Spezia bringen, wo er den Bus nach Licciana nahm, dem Heimatort der Frau. Durch das Busfenster hielt er Ausschau nach der Scheune und dem Felsvorsprung, wo er ihr begegnet war, doch es sah alles anders aus, und er fand sich nicht zurecht. Das Dorf war doppelt so groß wie zu Kriegszeiten, und die bröckelnden alten Steinruinen waren von neuen Häusern verdrängt worden. Alvis trat in eine Trattoria und nannte dem Besitzer Marias Nachnamen. Der Mann kannte die Familie. Er war mit Marias Bruder Marco zur Schule gegangen, der auf der Seite der Faschisten gekämpft hatte und zur Belohnung auf dem Dorfplatz an den Füßen aufgehängt worden und verblutet war wie eine geschlachtete Kuh. Was aus Maria geworden war, wusste er nicht, doch ihre jüngere Schwester Nina hatte einen Jungen aus dem Ort geheiratet und wohnte noch immer hier. Alvis ließ sich den Weg zu Ninas Haus beschreiben, einem einstöckigen Steinbau in einer Lichtung, wo sich unter den alten Felswällen des Dorfs eine neue Siedlung über den Hang hinunterzog. Er klopfte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und eine schwarzhaarige Frau schaute durchs Fenster daneben und fragte nach seinem Anliegen.
    Alvis erklärte ihr, dass er ihre Schwester im Krieg kennengelernt hatte.
    »Anna?«, fragte sie.
    »Nein, Maria.«
    »Oh.« Was dieser Laut zu bedeuten hatte, war nicht zu erkennen. Doch kurz darauf bat sie ihn in das gepflegte Wohnzimmer. »Maria ist mit einem Arzt verheiratet und lebt in Genua.«
    Alvis fragte, ob sie Marias Adresse hatte.
    Ihre Miene verfinsterte sich. »Sie braucht keine Besuche von alten Freunden aus dem Krieg. Sie ist endlich glücklich. Warum wollen Sie ihr Scherereien machen?«
    Alvis beteuerte, dass er nicht vorhatte, Scherereien zu machen.
    »Maria hatte

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