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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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es sehr schwer im Krieg. Lassen Sie sie in Ruhe. Bitte.« In diesem Moment rief eines von Ninas Kindern nach ihr, und sie ging in die Küche, um nachzusehen.
    Im Wohnzimmer gab es ein Telefon, das offenbar eine neue Errungenschaft war und deshalb einen besonderen Platz auf einem Tisch voller Heiligenfiguren erhalten hatte. Unter dem Telefon lag ein Adressbuch.
    Schnell schlug Alvis das Buch beim Abschnitt M auf, und da war es: der Name Maria. Kein Nachname. Auch keine Telefonnummer. Nur eine Straße mit Hausnummer. Alvis prägte sich die Anschrift ein und legte das Buch wieder zurück. Kurz darauf dankte er Nina für ihre Geduld und verließ das Haus.
    Am Nachmittag nahm er den Zug nach Genua.
    Wie sich herausstellte, war die Adresse in der Nähe des Hafens. Alvis fürchtete, sich verlesen zu haben, denn das schien nicht unbedingt die passende Gegend für einen Arzt und seine Frau.
    Die Häuser aus Ziegeln und Stein waren übereinandergeschachtelt und zogen sich wie eine Tonleiter nach unten zum Hafen. Auf Straßenhöhe gab es billige Cafés und Tavernen, die von Fischern frequentiert wurden, und darüber lagen Absteigen und einfache Hotels. Marias Hausnummer war eine Taverne, ein Rattenloch mit verzogenen Tischen und einem zerrupften alten Teppich. Hinter der Theke saß ein spindeldürrer, grinsender Barkeeper und bediente Fischer mit hängenden Mützen, die über angeschlagene Gläser mit bernsteinfarbener Flüssigkeit gebeugt waren.
    Alvis entschuldigte sich und sagte, dass er sich wohl in der Adresse vertan habe. »Ich bin auf der Suche nach einer Frau …«
    Der magere Barkeeper wartete nicht auf einen Namen. Er deutete nur auf die Treppe hinter der Theke und hielt die Hand auf.
    »Ah.« Alvis, der jetzt genau wusste, wo er gelandet war, bezahlte den Mann. Als er die Stufen hinaufstieg, betete er, dass ein Irrtum vorliege und dass er sie nicht antreffen würde. Oben war ein Flur, der in ein Foyer mit einer Couch und zwei Sesseln mündete. Auf der Couch saßen zwei Frauen in kurzen Nachthemden, die sich leise unterhielten. Sie waren jung, eigentlich noch Mädchen, und hatten aufgeschlagene Zeitschriften vor sich liegen. Beide waren ihm unbekannt.
    Auf einem Sessel lehnte mit einem verblassten Morgenrock aus Seide über dem Nachthemd Maria und rauchte das letzte Stück einer Zigarette.
    »Hallo«, sagte Alvis.
    Maria blickte nicht einmal auf.
    Eine der Jüngeren sprach ihn auf Englisch an: »Amerika, ja? Du magst mich, Amerika?«
    Alvis ignorierte sie. »Maria.«
    Sie reagierte nicht.
    »Maria?«
    Endlich schaute sie auf. Sie wirkte zwanzig Jahre älter, nicht zehn. Ihre Arme waren dicker geworden, um Mund und Augen hatte sie Falten.
    »Wer ist Maria?«, fragte sie.
    Eine der anderen lachte. »Hör schon auf damit. Oder über lass ihn mir.«
    Ohne eine Spur von Anteilnahme nannte Maria ihm die Preise für verschieden lange Aufenthalte. Über ihr hing ein hässliches Gemälde einer Schwertlilie. Alvis unterdrückte den Impuls, es umzudrehen. Er entschied sich für eine halbe Stunde.
    Da ihm solche Orte nicht fremd waren, zahlte er Maria die Hälfte des vereinbarten Preises im Voraus. Sie faltete die Scheine und brachte sie nach unten zu dem Mann an der Bar. Dann folgte ihr Alvis durch den Flur zu einem kleinen Zimmer. Das Mobiliar bestand aus einem gemachten Bett, einem Nachttisch, einem Garderobenständer und einem zerkratzten, trüben Spiegel. Ein Fenster zeigte auf die Straße und den Hafen. Die Federn knarrten, als sie sich aufs Bett setzte und anfing, sich auszuziehen.
    »Du erinnerst dich nicht an mich?«, fragte Alvis auf Italienisch.
    Reglos blieb sie sitzen, in den Augen kein Wiedererkennen.
    Zögernd erzählte ihr Alvis, dass er im Krieg in Italien stationiert war, dass er sie eines Nachts auf einer verlassenen Straße getroffen und nach Hause begleitet hatte, dass er an diesem Tag einen Punkt erreicht hatte, an dem er sich nichts mehr aus dem Leben machte, dass sich das aber nach der Begegnung mit ihr wieder geändert hatte. Er berichtete, dass sie ihn dazu ermuntert hatte, nach dem Krieg ein Buch zu schreiben, dass er aber stattdessen nach Amerika (»Wisconsin – ti ricordi?«) zurückgekehrt war und das letzte Jahrzehnt versoffen hatte. Sein bester Freund war im Krieg gestorben und hatte Frau und Sohn hinterlassen. Alvis hingegen hatte niemanden, er war nach Hause gekommen und hatte all die Jahre vergeudet.
    Geduldig hörte sie zu. Dann fragte sie, ob er Sex wollte.
    Er erzählte ihr, dass er nach

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