Schöne Ruinen
kamen sicher, wenn er sie einlud; mit Spucke würden sie sich das dünne Haar an den Kopf drücken, schwarze Jacken anziehen und sich mit ihren Frauen hinstellen, wenn der Priester intonierte: Antonia, requiem aeternam dona ei, Domine. Danach würden die Frauen mit ernster Miene die Speisen ins Hotel bringen. Das alles erschien Pasquale so berechenbar – erdverbunden und sinnlos. Natürlich war es genau das, was sie gewollt hätte, und so besprach er alles Nötige für die Trauermesse, und der Geistliche blickte durch seine Bifokalbrille auf, nachdem er einen Vermerk in eine Art Journal gemacht hatte. Wünschte Pasquale auch, dass er Trigesimo las, die Messe dreißig Tage nach dem Tod, um der Verstorbenen den Einzug in den Himmel zu erleichtern? Pasquale willigte ein.
»Eccellente.« Pater Francesco streckte ihm die Hand entgegen.
Pasquale nahm die Hand, um sie zu schütteln, doch der Geistliche fixierte ihn streng – zumindest mit einem Auge. »Ach so.« Er griff in seine Tasche und bezahlte den Mann. Das Geld verschwand in der Soutane, und der Priester erteilte ihm schnell den Segen.
Benommen stapfte Pasquale zurück zum Kai, wo Tomassos Boot festgemacht war, und kletterte in den schmutzigen Holzkahn. Er fühlte sich schrecklich, weil er seine Mutter auf so unwürdige Weise überführt hatte. Und dann blitzte wie aus heiterem Himmel eine seltsame Erinnerung in ihm auf. Er war wahrscheinlich sieben gewesen damals. Er erwachte aus einem Nachmittagsschlaf und wusste nicht, wie spät es war. Verwirrt ging er nach unten und fand seine Mutter, die weinte und von seinem Vater getröstet wurde. Er sah seine Eltern durch die offene Schlafzimmertür und begriff zum ersten Mal, dass sie von ihm getrennt waren – dass sie existiert hatten, bevor er zur Welt gekommen war. In diesem Augenblick bemerkte sein Vater ihn und sagte: »Deine Großmutter ist gestorben.« Er dachte, die Mutter seiner Mutter sei gemeint, und erfuhr erst später, dass es die Mutter seines Vaters war. Trotzdem hatte er sie getröstet und nicht umgekehrt. Dann schaute seine Mutter auf. »Es ist ein Glück für sie, Pasquale. Sie ist jetzt bei Gott.« Die Erinnerung ging wie ein Riss durch ihn, und er musste wieder daran denken, wie wenig man die geliebten Menschen eigentlich kannte. Er vergrub das Gesicht in den Händen, und Tomasso wandte sich höflich ab, als er aus La Spezia ablegte.
Zurück in der Ausreichenden Aussicht konnte er Valeria nirgends finden. Pasquale warf einen Blick in ihr Zimmer, das geputzt und aufgeräumt war wie das seiner Mutter – als hätte nie jemand darin gelebt. Keiner der Fischer hatte sie weggefahren, daher musste sie einen der steilen Pfade hinter dem Dorf hinauf in die Klippen gestiegen sein. An diesem Abend kam sich Pasquale vor wie in einer Gruft. Er holte sich eine Flasche Wein aus dem Keller seiner Eltern und setzte sich in die leere Trattoria. Die Fischer blieben alle fern. Schon immer hatte sich Pasquale eingeengt gefühlt von seinem Leben – von der ängstlichen Zurückgezogenheit seiner Eltern, vom Hotel zur ausreichenden Aussicht, von Porto Vergogna, von all diesen Dingen, die ihn hier festhielten. Jetzt war er nur noch an die Tatsache gekettet, dass er völlig allein war.
Pasquale trank den Wein aus und holte sich noch eine Flasche. Stumm saß er an seinem Tisch in der Trattoria und starrte auf das Foto von Dee Moray und der anderen Frau. Langsam verblich die Nacht, und in seinem Kopf breitete sich Nebel aus. Noch immer kein Lebenszeichen von seiner Tante. Dann musste er eingeschlafen sein, denn er hörte ein Boot, und die Stimme Gottes dröhnte durch das Hotelfoyer.
»Buon giorno!«, brüllte Gott. »Carlo? Antonia? Wo seid ihr?« Am liebsten hätte Pasquale geweint, denn hätten seine Eltern nicht bei Gott sein müssen? Warum rief er dann nach ihnen, und noch dazu auf Englisch? Schließlich merkte Pasquale, dass er noch schlief, und er fuhr hoch, als Gott wieder zum Italienischen zurückkehrte: »Cosa si deve fare per ottenere una bevanda qui intorno?« Da erkannte Pasquale, dass das natürlich nicht Gott war. Nein, Alvis Bender war am frühen Morgen zu seinem jährlichen Schreiburlaub eingetroffen und erkundigte sich in seinem nicht unbedingt perfekten Italienisch, was man tun müsse, um in dieser Gegend etwas zu trinken zu bekommen.
Nach dem Krieg war Alvis Bender orientierungslos. Er kehrte nach Madison zurück, um an dem kleinen geisteswissenschaftlichen College Edgewood Englisch zu unterrichten,
Weitere Kostenlose Bücher