Schöne Ruinen
doch er war mürrisch und heimatlos und versank oft wochenlang in alkoholgenährten Depressionen. Seine frühere Begeisterung fürs Unterrichten und für die Welt der Bücher war verflogen. Die Franziskaner, die das College führten, hatten bald die Nase voll von seinen Besäufnissen, und Alvis arbeitete wieder bei seinem Vater. Anfang der Fünfzigerjahre war Bender Chevrolet das größte Autohaus in Wisconsin; nach der Einweihung neuer Filialen in Green Bay und Oshkosh wollte sein Vater eine Pontiac-Niederlassung in einem Vorort von Chicago eröffnen. Alvis nutzte den Wohlstand seiner Familie aus und benahm sich in der Autobranche nicht anders als an dem kleinen College, bis er bei den Sekretärinnen und Buchhaltern der Firma allgemein für seine Trinkfestigkeit bekannt war. Die Leute seiner Umgebung führten seine Stimmungsschwankungen auf etwas zurück, was euphemistisch als »Kriegsmüdigkeit« bezeichnet wurde, doch als sein Vater fragte, ob er einen Granatenschock hatte, antwortete Alvis: »Nur am Abend, wenn ich mir einen ansaufe, Dad.«
Alvis glaubte nicht, dass er an Kriegsmüdigkeit litt – schließlich war er ja kaum an Kampfhandlungen beteiligt gewesen –, eher traf schon der Ausdruck Lebens müdigkeit zu. Möglicherweise war es eine vom Krieg verursachte Existenzangst, doch was an ihm nagte, fühlte sich irgendwie kleiner an: Er sah einfach keinen Sinn mehr in den Dingen. Vor allem nicht darin, schwer zu arbeiten und sich an die gängigen Moralvorstellungen zu halten. Richards war damit auch nicht weit gekommen. Er hingegen hatte überlebt und war nach Wisconsin heimgekehrt. Und wozu? Um Schwachköpfen Grammatik einzubläuen? Um schnittige Bel-Air-Cabrios an Zahnärzte zu verkaufen?
An seinen besseren Tagen bildete er sich ein, sein Unbehagen für das Buch nutzen zu können, das er schrieb – bloß dass er in Wirklichkeit keines schrieb. Oh, er redete viel über dieses Buch, doch die Seiten füllten sich nicht. Und je mehr er über das Buch redete, das er nicht schrieb, desto schwerer fiel es ihm, einen Anfang zu finden. Der erste Satz machte ihm zu schaffen. Er hatte die vage Vorstellung, dass sein Kriegsroman ein Antikriegsroman werden sollte. Er wollte sich auf die Plackerei des Soldatendaseins konzentrieren und nur eine einzige Schlacht erwähnen, das neunsekündige Feuergefecht in Strettoia, in dem seine Kompanie drei Männer verloren hatte; das Ganze sollte sich um die Langeweile drehen, die zu diesen neun Sekunden führte; und nachdem in diesen neun Sekunden der Protagonist gestorben war, sollte das Buch mit einer anderen, eher nebensächlichen Figur einfach weitergehen. Mit dieser Struktur wollte er die Beliebigkeit dessen erfassen, was er erlebt hatte. Alle Bücher und Filme über den Zweiten Weltkrieg waren so verdammt ernst und feierlich, Audie-Murphy-Geschichten über Tapferkeit. Sein eigener nüchterner Blick hingegen entsprach, wie er fand, mehr Büchern über den Ersten Weltkrieg: Hemingways stoischer Distanz, Dos Passos’ ironischen Tragödien, Célines absurden, schwarzen Satiren.
Dann, als er eines Tages versuchte, eine Zufallsbekanntschaft ins Bett zu bekommen, erwähnte er, dass er an einem Buch schrieb. »Worüber?« Ihr Interesse war erwacht. »Es geht um den Krieg«, antwortete er. »In Korea?«, fragte sie ohne Hintergedanken. Da erkannte Alvis, was für eine jämmerliche Erscheinung er inzwischen war.
Sein alter Freund Richards hatte recht gehabt: Die hatten schon den nächsten Krieg vom Zaun gebrochen, bevor Alvis mit dem letzten abgeschlossen hatte. Und bei dem Gedanken an seinen toten Freund schämte sich Alvis dafür, wie er die letzten acht Jahre vergeudet hatte.
Am nächsten Tag marschierte Alvis ins Geschäft und teilte seinem Vater mit, dass er Zeit für sich brauche. Er wollte nach Italien zurückkehren und endlich sein Buch über den Krieg schreiben. Sein Vater war nicht glücklich, doch er schlug Alvis einen Handel vor: Er konnte sich drei Monate freinehmen, aber danach musste er wiederkommen, um die neue Pontiac-Filiale in Kenosha zu übernehmen. Alvis stimmte sofort zu.
Und so flog er nach Italien. Von Venedig nach Florenz, von Neapel nach Rom, reiste, trank, rauchte und betrachtete er, und immer hatte er seine tragbare Royal-Schreibmaschine im Gepäck – ohne sie je aus dem Koffer zu nehmen. Stattdessen ging er nach der Anmeldung in einem Hotel direkt in die Bar. Überall wollten die Menschen den zurückgekehrten GI zu einem Drink einladen, und überall
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