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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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nahm Alvis die Einladung an. Er sagte sich, dass er Recherchen anstellte, doch abgesehen von einem unergiebigen Ausflug nach Strettoia, dem Neunsekundenort, ging es bei seinen Recherchen in erster Linie darum, zu trinken und Italienerinnen zu verführen.
    In Strettoia erwachte er mit einem furchtbaren Kater und machte sich auf die Suche nach der Lichtung, wo seine Einheit in das Feuergefecht geraten war. Dort stieß er auf einen Landschaftsmaler, der gerade eine alte Scheune skizzierte. Aber der junge Mann zeichnete die Scheune verkehrt herum. Alvis dachte, dass der Maler möglicherweise einen leichten Dachschaden hatte, doch seine Arbeit hatte etwas an sich, was Alvis anzog: eine Orientierungslosigkeit, die ihm vertraut erschien.
    »Das Auge sieht alles verkehrt«, erklärte der Künstler, »und dann dreht das Gehirn es automatisch um. Ich will bloß, dass es wieder so ist, wie man es wahrnimmt.«
    Lange starrte Alvis auf die Skizze. Er spielte sogar mit dem Gedanken, das Bild zu kaufen, doch dann wurde ihm klar, dass die Leute es einfach umdrehen würden, wenn er es so aufhängte. Und das, so erkannte er, war im Grunde auch das Problem an dem Buch, das ihm vorschwebte. Einen üblichen Kriegsroman konnte er nie schreiben; was er über den Krieg zu sagen hatte, konnte nur verkehrt herum erzählt werden, und das würden die Leser wahrscheinlich nicht verstehen und dann versuchen, es mit der richtigen Seite nach oben zu wenden.
    Am gleichen Abend lud er zu einem Drink einen alten Partisanen ein, der schreckliche Brandnarben im Gesicht hatte. Der Mann küsste Alvis auf die Wangen, klopfte ihm auf den Rücken und nannte ihn Compagno und Amico. Dann erzählte er Alvis, wie er sich die Verbrennungen zugezogen hatte: Seine Partisaneneinheit hatte in einem Heuschober in den Bergen geschlafen, als plötzlich eine deutsche Patrouille auftauchte und einen Flammenwerfer einsetzte, um sie herauszutreiben. Er war der Einzige, der mit dem Leben davonkam. Alvis war so ergriffen von der Geschichte, dass er den Mann zu weiteren Runden einlud. Immer wieder prosteten sie einander zu und trauerten um Freunde, die sie verloren hatten. Schließlich fragte Alvis ihn, ob er die Geschichte in seinem Buch verwenden dürfe. Daraufhin brach der Italiener in Tränen aus. Es war alles erlogen, bekannte er; es hatte keine Partisaneneinheit, keinen Flammenwerfer und auch keine Deutschen gegeben. Vor zwei Jahren hatte er an einem Auto gearbeitet, und plötzlich hatte der Motor Feuer gefangen.
    Gerührt und schon nicht mehr ganz nüchtern verzieh Alvis Bender seinem neuen Freund. Schließlich war auch er bloß ein Schwindler; schon seit fast zehn Jahren redete er von seinem Buch und hatte noch kein einziges Wort geschrieben. Weinend fielen sich die beiden betrunkenen Lügner in die Arme und blieben die ganze Nacht auf, um einander ihre Schwächen zu gestehen.
    Am Morgen starrte Alvis Bender schwer verkatert auf den Hafen von La Spezia. Von den drei Monaten, die ihm sein Vater eingeräumt hatte, um »zur Vernunft zu kommen«, waren nur noch zwei Wochen übrig. Er nahm seinen Koffer und die tragbare Schreibmaschine und marschierte zum Kai, um eine Fahrt nach Portovenere auszuhandeln. Doch der Führer des Wassertaxis missverstand sein gelalltes Italienisch. Zwei Stunden später rumpelte das Boot gegen einen Felsvorsprung in einer winzigen Bucht, und er sah ein Kaff mit vielleicht einem Dutzend Häusern, die sich an die Klippen schmiegten, und einem einzigen kümmerlichen Betrieb, einer kleinen Pensione und Trattoria, die wie alles an der Küste nach dem heiligen Petrus benannt war. Eine Handvoll Fischer hantierte in kleinen Kähnen mit Netzen herum, und der Besitzer des leeren Hotels las auf der Terrasse Zeitung und rauchte seine Pfeife, während sein hübscher, blauäugiger Sohn in der Nähe auf einem Felsen saß und vor sich hin träumte. »Wo sind wir hier?«, fragte Alvis Bender. »In Porto Vergogna«, antwortete der Bootsführer. Hafen der Schande. War das nicht der Ort, nach dem er sich gesehnt hatte? Alvis Bender konnte sich gar nichts Besseres für sich vorstellen. »Ja, natürlich.«
    Carlo Tursi, der Eigentümer des Hotels, war ein freundlicher, aufmerksamer Mann, der nach dem Tod seiner beiden Söhne im Krieg Florenz verlassen hatte und hierher in dieses abgeschiedene Nest gezogen war. Es war eine Ehre für ihn, einen amerikanischen Schriftsteller in seiner Pensione zu begrüßen, und er versprach, dass sein Sohn Pasquale untertags leise sein

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