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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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Licciana gefahren war, um nach ihr zu suchen, und bei der Erwähnung ihres Heimatdorfs glaubte er, etwas in ihren Augen zu erkennen – Scham vielleicht. Was sie damals für ihn getan hatte, hatte ihn mit großer Demut erfüllt – nicht das mit der Hand, sondern die Art, wie sie tröstend sein weinendes Gesicht an ihre wunderschöne Brust gedrückt hatte. So menschlich hatte ihn nie wieder jemand behandelt.
    »Es tut mir so leid«, erklärte Alvis, »dass das aus dir geworden ist.«
    »Das?« Sie erschreckte Alvis mit ihrem Lachen. »Das war ich schon immer.« Mit breiter Geste deutete sie auf das Zimmer. »Mein Freund, ich kenne dich nicht. Und auch das Dorf, von dem du sprichst, kenne ich nicht. Ich habe immer in Genua gelebt. Manchmal kommen Männer wie du zu mir, Amerikaner, die im Krieg waren und zum ersten Mal Sex mit einer Frau hatten, die wie ich aussah. Schon gut.« Sie wirkte geduldig, aber nicht besonders interessiert an seiner Geschichte. »Aber was hattest du denn vor? Wolltest du diese Maria retten und sie mit nach Amerika nehmen?«
    Alvis fiel keine Antwort ein. Nein, natürlich hatte er nicht die Absicht, sie mit nach Amerika zu nehmen. Was hatte ihn dann hergeführt? Warum war er hier?
    »Es hat mich glücklich gemacht, dass du mich den Jüngeren vorgezogen hast.« Die Prostituierte streckte die Hand nach seinem Gürtel aus. »Aber bitte nenn mich nicht mehr Maria.«
    Als ihre Hände geschickt seinen Gürtel lösten, starrte Alvis in das Gesicht der Frau. Sie war es doch, oder? Plötzlich war er sich nicht mehr sicher. Sie wirkte zu alt. Und die fülligeren Arme, die er auf die verstrichenen Jahre zurückgeführt hatte – war es vielleicht doch eine andere? Hatte er seine Lebensbeichte bei einer beliebigen Hure abgelegt?
    Er sah zu, wie sie ihm mit dicken Fingern die Hose aufknöpfte. Obwohl er sich wie gelähmt fühlte, riss er sich los. Schnell machte er die Hose und die Gürtelschnalle zu.
    »Hättest du lieber eine von den anderen?«, fragte die Prostituierte. »Ich hole sie, aber mich musst du trotzdem bezahlen.«
    Mit zitternden Händen zog Alvis die Brieftasche heraus und entnahm ihr das Fünfzigfache des ausgemachten Preises. Er legte das Geld aufs Bett. Dann sagte er leise: »Es tut mir leid, dass ich dich damals nicht einfach bloß nach Hause begleitet habe.«
    Sie starrte das Geld an. Mit einem Gefühl, als wäre das letzte Quäntchen Leben aus ihm herausgesickert, stakste Alvis Bender aus dem Zimmer. Im Vorraum sahen die anderen Huren nicht einmal von ihren Zeitschriften auf. Unten schob er sich an dem dürren Grinser vorbei, und als er wieder hinaus in die Sonne kam, war Alvis fast wahnsinnig vor Durst. Er steuerte auf eine andere Kneipe zu und dachte, zum Glück wird es solche Bars immer geben. Es war eine Erleichterung, dass er es nie schaffen würde, alle Bars der Welt leer zu trinken. Er konnte weiterhin einmal im Jahr nach Italien kommen, um an seinem Buch zu arbeiten, und wenn er dafür bis zu seinem Lebensende brauchte und sich dabei zu Tode soff, war das auch in Ordnung. Er wusste jetzt, was sein Buch sein würde: ein Fragment, unvollständig und unförmig, eine Scherbe aus einem größeren Sinnzusammenhang. Und wenn der Besuch bei Maria letztlich bedeutungslos war – ein flüchtiger Moment, eine Zufallsbegegnung vielleicht sogar mit der falschen Hure –, dann sollte ihm das auch recht sein.
    Auf der Straße riss ihn ein Lastwagen, der ihn umkurvte, aus seinen Gedanken, und er sah sich noch einmal nach dem Bordell um, das er soeben verlassen hatte. Im Fenster des ersten Stocks lehnte Maria – das bildete er sich zumindest ein – und beobachtete ihn. Ihr Morgenmantel war ein wenig geöffnet, und ihre Finger streichelten die Stelle zwischen ihren Brüsten, an die er einst schluchzend sein Gesicht gepresst hatte. Kurz starrte sie noch zu ihm herab, dann wich sie vom Fenster zurück und war verschwunden.
    Nach diesem kreativen Ausbruch machte Alvis Bender während seiner Italienaufenthalte keine großen Fortschritte mehr mit seinem Roman. Stattdessen zog er ein, zwei Wochen durch Rom, Mailand oder Venedig, trank und lief Frauen nach, bevor er ein paar ruhige Tage in Porto Vergogna verbrachte. Er bastelte an diesem ersten Kapitel herum, stellte um, strich ein oder zwei Worte, fügte einen neuen Satz ein – aber mit dem Buch ging es nicht weiter. Trotzdem baute es ihn jedes Mal auf, wenn er dieses eine gute Kapitel las und sachte überarbeitete und seinen alten Freund Carlo

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