Schöne Ruinen
Geschäftsmann zu denken, und vertraute Alvis an, wie er Touristen nach Porto Vergogna locken wollte – obwohl Alvis einwandte, dass der Tourismus den Ort zerstören würde.
»Früher war jeder Ort in Italien von mittelalterlichen Mauern umgeben«, dozierte Alvis. »Bis auf den heutigen Tag erheben sich auf jedem Hügel in der Toskana graue Burgwälle. In Zeiten der Gefahr flüchteten sich die Bauern hinter diese Mauern, um vor Räubern und Heeren sicher zu sein. Fast überall in Europa ist der Bauernstand vor dreißig, vierzig Jahren verschwunden, bloß in Italien nicht. Doch auch hier dringen die Häuser inzwischen ins Flachland und in die Flusstäler außerhalb der Burgwälle vor. Mit den Mauern verfällt auch die italienische Kultur, Carlo. Italien wird ein Land wie jedes andere, überlaufen von Leuten, die nach der ›italienischen Lebensart‹ suchen.«
»Ja«, warf Carlo ein. »Genau davon möchte ich profitieren!«
Alvis deutete auf die schartigen Klippen über und hinter ihnen. »Aber hier an der Küste wurden die Wälle von Gott geschaffen – oder von Vulkanen. Die lassen sich nicht einreißen. Und man kann nicht um sie herum bauen. Dieses Dorf wird nie mehr sein als ein paar Seepocken auf Felsen. Doch eines Tages könnte es der letzte italienische Ort in ganz Italien sein.«
»Richtig«, rief Carlo in betrunkener Begeisterung. »Dann werden die Touristen in Strömen herkommen, nicht wahr, Roberto?«
Es wurde still. Alvis Bender war genauso alt, wie Carlos ältester Sohn gewesen wäre, wenn er nicht in seinem trudelnden Kasten über Nordafrika abgestürzt wäre.
Carlo stieß ein mattes Seufzen aus. »Entschuldige bitte. Ich wollte natürlich Alvis sagen.«
»Natürlich.« Alvis klopfte dem Älteren auf die Schulter.
Viele Male hörte Pasquale beim Zubettgehen im Hintergrund, wie sich sein Vater und Alvis unterhielten, und wenn er Stunden später erwachte, waren sie immer noch auf der Terrasse, und der Schriftsteller verbreitete sich über irgendein obskures Thema ( Die Kanalisation ist die größte Leistung der Menschheit, Carlo, die Beseitigung der Scheiße ist der absolute Höhepunkt von all diesem Erfinden und Kämpfen und Kopulieren ) . Doch irgendwann lenkte Carlo das Gespräch stets wieder auf den Tourismus und fragte seinen einzigen amerikanischen Gast, wie er die Pensione di San Pietro für Amerikaner attraktiver gestalten könne.
Alvis Bender ging auf Carlo ein, doch am Ende flehte er ihn meistens an, nichts zu verändern. »Schon bald wird die ganze Küste verdorben sein. Du hast hier etwas wirklich Magisches, Carlo. Echte Abgeschiedenheit. Und natürliche Schönheit.«
»Dann sollte ich das vielleicht anpreisen, zum Beispiel mit einem englischen Namen? Wie würde man sagen für L’albergo numero uno, tranquillo, con una bella vista del villaggio e delle scogliere?«
»Der stille Gasthof Nummer eins mit schöner Aussicht vom Dorf und von den Klippen«, antwortete Alvis Bender. »Nett. Vielleicht ein bisschen lang. Und sentimental.«
Carlo fragte, was er mit sentimentale meinte.
»Worte und Gefühle sind einfache Währungen. Wenn wir sie inflationär verwenden, verlieren sie ihren Wert, genau wie Geld. Sie bedeuten nichts mehr. Sagst du schön , um ein Sandwich zu beschreiben, bedeutet das Wort nichts mehr. Nach dem Krieg gibt es keinen Platz mehr für eine inflationäre Sprache. Die Worte und Gefühle sind jetzt klein – klar und präzise. Bescheiden wie Träume.«
Diesen Rat nahm sich Carlo Tursi zu Herzen. So traf Alvis Bender 1960, als Pasquale in Florenz studierte, zu seinem jährlichen Besuch ein. Er stieg die Treppe zum Hotel hinauf und fand Carlo mit stolzgeschwellter Brust vor den verdutzten Fischern und seinem neuen handgeschriebenen Schild: HOTEL ZUR AUSREICHENDEN AUSSICHT .
»Was heißt das?«, erkundigte sich einer der Fischer. »Leeres Freudenhaus?«
Carlo übersetzte: »L’albergo della vista discreta.«
»Was für ein Trottel sagt, dass die Aussicht von diesem Hotel nur ausreichend ist?«
»Bravo, Carlo«, rief Alvis. »Das ist perfekt.«
Die schöne Amerikanerin musste sich übergeben. In seinem Zimmer hörte Pasquale von oben ein Würgen. Er schaltete das Licht ein und nahm seine Uhr von der Kommode. Vier Uhr früh. Leise zog er sich an und tastete sich die dunkle, enge Stiege hinauf. Vier Stufen vor dem Absatz sah er, wie sie an der Badtür lehnte und nach Luft rang. Sie trug ein dünnes, weißes Nachthemd, das eine Handbreit über ihren Knien endete. Ihre
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