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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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Titel Das Lächeln des Himmels kam ihm falsch vor. Für ihn war der Himmel kein Ort des Lächelns. Wenn man für Todsünden in die Hölle und für lässliche Sünden ins Fegefeuer kam, dann konnte es im Himmel nichts als Heilige, Priester, Nonnen und getaufte Babys geben, die gestorben waren, ehe sie etwas Böses hatten tun können.
    »Warum lächelt der Himmel in deinem Buch?«
    »Das weiß ich nicht.« Bender schlürfte den Wein und reichte Pasquale das leere Glas. »Vielleicht, weil es den Saukerl Hitler am Ende doch noch erwischt.«
    Pasquale erhob sich, um wieder Wein zu holen. Allerdings befürchtete er, dass Bender ihn doch nicht aufzog. »Ich finde es verkehrt, wenn Hitlers Tod ein Zufall ist.«
    Alvis lächelte den Jungen müde an. »Alles ist Zufall, Pasquale.«
    In diesen Jahren erlebte Pasquale nie, dass Alvis mehr als einige wenige Stunden schrieb; manchmal fragte er sich so gar, ob der Mann überhaupt seine Schreibmaschine auspackte. Doch er kam immer wieder, Jahr für Jahr, und schließlich überreichte er Carlo 1959 – kurz bevor Pasquale zum Studieren nach Florenz zog – das erste Kapitel seines Romans. Ein Kapitel in sechs Jahren.
    Pasquale verstand nicht, weshalb es Alvis überhaupt nach Porto Vergogna trieb, da er doch offenbar kaum etwas zuwege brachte. »Von allen Orten auf der Welt, warum kommst du ausgerechnet hierher?«
    »Diese Küste ist ein Quell der Inspiration für Schriftsteller«, erwiderte Alvis. »Ganz in der Nähe hat Petrarca das Sonett erfunden. Byron, James, Lawrence – sie alle haben hier geschrieben. Boccaccio hat hier den Realismus erfunden. Shelley ist hier in der Nähe ertrunken, und auch seine Frau, die Erfinderin des Schauerromans, hat wenige Kilometer weiter eine kreative Zeit erlebt.«
    Pasquale war nicht klar, was Alvis Bender meinte, wenn er sagte, dass diese Autoren etwas erfunden hatten. Erfinder waren für ihn Männer wie Marconi, der große Bologneser, der die Telegrafie entwickelt hatte. Sobald man die erste Geschichte erzählt hatte, was gab es da noch zu erfinden?
    »Ausgezeichnete Frage.« Seit er seine Stelle am College verloren hatte, suchte Alvis immer nach Gelegenheiten zum Dozieren, und der behütete, halbwüchsige Pasquale war ein bereitwilliger Zuhörer. »Stell dir die Wahrheit als eine Kette hoher Berge vor, deren Gipfel weit in die Wolken ragen. Schriftsteller suchen ständig nach neuen Wegen hinauf zu diesen Gipfeln, um die Wahrheit zu erkunden.«
    »Die Geschichten sind also Wege?«
    »Nein«, erklärte Alvis. »Geschichten sind Stiere. Am Anfang sind Schriftsteller voller Kraft und spüren das Verlangen, die alten Geschichten von der Herde wegzutreiben. Eine Weile herrscht ein Stier über die Herde, doch dann verliert er seine Kraft, und die jungen Stiere verdrängen ihn.«
    »Geschichten sind Stiere?«
    »Nein.« Alvis Bender nahm einen Schluck. »Geschichten sind Nationen, Weltreiche. Sie können so lange bestehen wie das alte Rom oder so kurz wie das Dritte Reich. Nationengeschichten erleben Aufstieg und Fall. Regierungen wechseln, politische Strömungen werden stärker und erobern ihre Nachbarn. Wie das römische Imperium hat sich das Heldenepos jahrhundertelang über die ganze Welt erstreckt. Der Roman hatte seinen Aufstieg mit dem britischen Empire, aber warte … was kommt da in Amerika hoch? Der Film?«
    Pasquale grinste. »Und wenn ich frage, ob Geschichten Weltreiche sind, sagst du …«
    »Geschichten sind Menschen. Ich bin eine Geschichte, du bist eine Geschichte … dein Vater auch. Unsere Geschichten verzweigen sich in alle Richtungen, doch manchmal, wenn wir Glück haben, fügen sie sich für eine Weile zu einer zusammen, dann sind wir weniger allein.«
    »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet«, drängte Pasquale. »Warum du hierherkommst.«
    Grübelnd fixierte Bender den Wein in seiner Hand. »Ein Autor braucht vier Dinge, um etwas Großes zu leisten, Pasquale: Sehnsucht, Enttäuschung und das Meer.«
    »Das sind nur drei.«
    Alvis trank sein Glas leer. »Die Enttäuschung muss man zweimal erleben.«
    Wenn Alvis, beseelt von zu viel Wein, Pasquale wie einen kleinen Bruder behandelte, so betrachtete Carlo Tursi seinerseits den Amerikaner mit ganz ähnlicher Zuneigung. Bis spät in die Nacht saßen die beiden Männer zusammen beim Wein und führten Parallelgespräche, bei denen der eine kaum auf den anderen hörte. Als der Schmerz des Krieges im Lauf der Fünfzigerjahre immer mehr nachließ, begann Carlo wieder, wie ein

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