Schöne Ruinen
beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. Als ihre Lippen über seine stachlige Haut streiften, spürte er, wie ihm der Atem stockte, und er merkte, dass er genauso bebte wie vorhin angesichts der Bedrohung durch Gualfredo.
»Gute Nacht, Pasquale.« Sie nahm Alvis Benders Romanfragment und wandte sich zum Gehen, doch dann stockte sie beim Anblick des Schilds HOTEL ZUR AUSREICHENDEN AUSSICHT . »Wie bist du eigentlich auf diesen Namen gekommen?«
Immer noch benommen von dem Kuss, wusste Pasquale nicht, wie er es erklären sollte. So deutete er einfach auf das Manuskript in ihren Händen. »Er.«
Sie nickte und ließ noch einmal den Blick über das winzige Dorf und die Felsen und Klippen gleiten. »Darf ich fragen, Pasquale … wie es ist, hier zu leben?«
Und diesmal hatte er keine Mühe, den richtigen Ausdruck zu finden. »Einsam.«
Pasquales Vater Carlo entstammte einer alten florentinischen Gastronomenfamilie, und er war immer davon ausgegangen, dass seine Söhne in seine Fußstapfen treten würden. Doch der Älteste, der schneidige Roberto mit dem rabenschwarzen Haar, träumte davon, Flieger zu werden, und stürmte im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs davon, um in die Regia Aeronautica einzutreten. Und tatsächlich flog Roberto – dreimal. Dann starb seine klapprige Saetta-Kampfmaschine über Nordafrika ab, und er fiel vom Himmel wie ein abgeschossener Vogel. Nach Rache lechzend, meldete sich Guido, der zweite Sohn der Tursis, zur Infanterie und veranlasste Carlo damit zu einem verzweifelten Wutausbruch: »Wenn du wirklich Rache willst, vergiss die Engländer, und bring lieber den Mechaniker um, der deinen Bruder in diesen rostigen Blechkübel hat steigen lassen.« Doch Guidos Entschluss stand fest, und er marschierte mit dem Elitekorps der Achten Armee los, Mussolinis Beweis dafür, dass Italien bereit war, die Nazis bei der Inva sion Russlands zu unterstützen. ( Kaninchen, die einen Schwarz bären fressen wollen , meinte Carlo dazu.)
Als er seine Frau über Robertos Tod hinwegtröstete, konnte der einundvierzigjährige Carlo noch einen letzten guten Samen rekrutieren, den er an die neununddreißigjährige Antonia weitergab. Zuerst mochte sie nicht an ihren Zustand glauben, dann fürchtete sie, dass wie schon so oft nach ihren ersten beiden Kindern eine Fehlgeburt auf sie wartete. Doch als ihr Bauch anschwoll, begriff Antonia ihre Kriegsschwangerschaft als sicheres Zeichen Gottes, dass Guido überleben würde. Sie nannte ihren blauäugigen Bambino miracolo Pasquale, italienisch für Ostern, um diesen Vertrag mit Gott zu besiegeln – dass die Seuche der Gewalt, die die ganze Welt heimsuchte, den Rest ihrer Familie verschonen möge.
Doch auch Guido starb, als im Winter 1941 auf den eisigen Schlachtfeldern Russlands eine Kugel seinen Hals durchschlug. Vernichtet vom Kummer, wollten sich seine Eltern nur noch verkriechen und ihren Jüngsten vor diesem Wahnsinn bewahren. So verkaufte Carlo seinen Anteil am Fami liengeschäft an mehrere Cousins und erwarb die winzige Pen sione di San Pietro in dem entlegensten Ort, den er finden konnte: Porto Vergogna. Und dort versteckten sie sich vor der Welt.
Zum Glück hatten die Tursis den größten Teil des Erlöses aus dem Verkauf ihres Besitzes in Florenz gespart, denn das Hotel lief schlecht. Gelegentlich spazierten verirrte Italiener und andere Europäer herein, und die kleine Trattoria war ein Treffpunkt für die schrumpfenden Fischerfamilien von Porto Vergogna, doch zwischen den Aufenthalten richtiger Gäste verstrichen oft Monate. Dann driftete im Frühjahr 1953 ein Wassertaxi in die Bucht, und ein hochgewachsener, gut aussehender junger Amerikaner mit schmalem Schnurrbart und glatt frisiertem, braunem Haar stieg aus. Der Mann hatte of fensichtlich getrunken und rauchte eine dünne Zigarre, als er mit seinem einzelnen Koffer und einer tragbaren Schreib maschine auf den Pier trat. Er schaute sich um und kratzte sich am Kopf. Dann sagte er in erstaunlich flüssigem Italienisch: »Sembra che qualcuno ha rubato il vostro villaggio.« Anscheinend hat jemand euer Dorf gestohlen. Nachdem er sich den Tursis als Alvis Bender vorgestellt hatte, »scrittore fallito ma ubriacone di successo« – gescheiterter Autor, aber erfolgreicher Säufer –, richtete er sich sechs Stunden lang auf der Terrasse ein, um Wein zu trinken und über Politik, Geschichte und zuletzt über das Buch zu reden, das er nicht schrieb.
Pasquale war zwölf, und mit Ausnahme gelegentlicher
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