Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
Vom Netzwerk:
Ausflüge zu Verwandten in Florenz stammte sein gesamtes Wissen über die Welt aus Büchern. Einen echten Schriftsteller kennenzulernen war unglaublich. In dem winzigen Nest hatte er vollkommen im Schutz seiner Eltern gelebt, und er war hingerissen von dem baumlangen, lachenden Amerikaner, der offenbar schon überall gewesen war und alles wusste. Pasquale saß zu Füßen des Autors und bombardierte ihn mit Fragen: »Wie ist Amerika? Was ist das beste Auto? Wie ist es in einem Flugzeug?« Und eines Tages: »Worum geht es in deinem Buch?«
    Alvis Bender reichte dem Jungen sein Weinglas. »Schenk mir nach, dann erzähl ich es dir.«
    Als Pasquale mit dem Wein wiederkam, lehnte sich Alvis zurück und strich sich über den Schnurrbart. »In meinem Buch geht es darum, dass die ganze Geschichte und der Fortschritt der Menschheit nur auf eine Erkenntnis hinauslaufen: Der Sinn und der tiefste Zweck des Lebens ist der Tod.«
    Pasquale hatte schon öfter solche Reden von Alvis gehört, wenn sich der Autor mit seinem Vater unterhielt. »Nein«, rief er. »Worum geht es? Was passiert ?«
    »Stimmt. Der Markt verlangt eine Geschichte.« Alvis genehmigte sich einen tiefen Schluck. »Also schön. In meinem Buch geht es um einen Amerikaner, der im Krieg in Italien kämpft und dabei seinen besten Freund und die Liebe zum Leben verliert. Der Mann kehrt nach Amerika zurück, wo er Englisch unterrichten und ein Buch über seine Enttäuschung schreiben möchte. Doch er trinkt nur, brütet vor sich hin und stellt Frauen nach. Er kann nicht schreiben. Vielleicht liegt es an seinen Schuldgefühlen, weil er noch lebt, während sein Freund gestorben ist. Und in diese Schuldgefühle mischt sich manchmal auch Neid: Sein Freund hat einen jungen Sohn hinterlassen, und nachdem der Mann diesen Sohn besucht hat, sehnt er sich danach, eine erhabene Erinnerung zu sein statt des abstoßenden Wracks, das aus ihm geworden ist. Der Mann verliert seine Stelle als Lehrer und kehrt zurück in den Betrieb seines Vaters, der Autohändler ist. Er trinkt, brütet vor sich hin und stellt Frauen nach. Er erkennt, dass es nur eine Möglichkeit für ihn gibt, dieses Buch zu schreiben und seinen Kummer zu lindern: Er muss zurück nach Italien, in das Land, das den Schlüssel zu seiner Trauer birgt, in das Land, das sich seiner Beschreibungskunst entzieht, wenn er nicht dort ist – ein Traum, an den er sich nicht richtig erinnern kann. Also reist der Mann jedes Jahr für zwei Wochen nach Italien, um an seinem Buch zu arbeiten. Doch jetzt kommt’s, Pasquale – und das darfst du keinem verraten, weil es ein Geheimnis ist: Auch in Italien arbeitet er eigentlich nicht an dem Buch. Er trinkt. Er brütet vor sich hin. Er stellt Frauen nach. Und er redet mit einem gescheiten Jungen in einem winzigen Dorf über den Roman, den er nie schreiben wird.«
    Es wurde still. Für Pasquale klang das Buch ziemlich langweilig. »Wie endet es?«
    Lange starrte Alvis Bender sein Weinglas an. »Das weiß ich nicht, Pasquale«, antwortete er schließlich. »Wie sollte es deiner Meinung nach enden?«
    Der junge Pasquale ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. »Na ja, statt im Krieg nach Amerika zurückzukehren, könnte er nach Deutschland fahren und versuchen, Hitler umzubringen.«
    »Ah.« Alvis Bender atmete tief durch. »Ja, genau das passiert, Pasquale. Er betrinkt sich auf einem Fest, und alle warnen ihn, dass er nicht mehr fahren soll, doch er verlässt wütend das Fest, hüpft in sein Auto und überfährt zufällig Hitler.«
    Pasquale fand nicht, dass Hitlers Tod ein Zufall sein sollte. Da würde die ganze Spannung verpuffen. Er hatte einen besseren Vorschlag. »Oder er erschießt ihn mit einer Maschinenpistole.«
    »Noch besser.« Alvis hob sein Glas. »Es gibt eine Riesenszene, als unser Held das Fest verlässt. Alle warnen ihn, dass er zu betrunken ist, um mit einer Maschinenpistole umzugehen. Doch er hört nicht auf sie und erschießt zufällig Hitler.«
    Als Pasquale der Verdacht beschlich, dass Bender sich über ihn lustig machte, wechselte er das Thema. »Wie heißt dein Buch, Alvis?«
    » Das Lächeln des Himmels «, antwortete er. »Das ist aus einem Gedicht von Shelley.« Dann rezitierte er aus dem Gedächtnis: »Halb schliefen die wispernden Wellen scho n / die Wolken feierten ferne den Ta g / Und auf des Meeres lichtem Ton / das Lächeln des Himmels lag.«
    Pasquale saß stumm da und sann über die Gedichtzeilen nach. Die wispernden Wellen – das kannte er. Aber der

Weitere Kostenlose Bücher