Schöne Ruinen
fasste nach Dees warmer Hand, als der Weg sich im nackten Fels verlief. An der letzten Kehre war ein seltsamer Orangenhain in den Hang gepflanzt worden – sechs knorrige Bäume, je drei auf beiden Seiten, die mit Draht am Stein befestigt waren, damit sie nicht vom Wind in die Tiefe gerissen wurden.
»Bloß ein bisschen mehr«, sagte Pasquale.
»Mir geht’s gut«, antwortete sie auf dem letzten Wegstück. Inzwischen schwebte der Klippenrand direkt über ihren Köpfen, und Porto Vergogna lugte sechzig Meter unter ihnen zwischen den Felsen hervor.
»Noch gut? Halt oder weiter?«, fragte Pasquale über die Schulter.
»Nein, alles gut. Das Gehen gefällt mir.«
Endlich erreichten sie das Gipfelplateau und standen direkt vor dem Abhang über dem Dorf. Eine scharfe Brise blies, und tief unten brandete die schäumende See an die Felsen.
So zerbrechlich wirkte Dee am Rand des Abgrunds, dass Pasquale den Drang spürte, sie zu packen, damit sie nicht vom Wind davongeweht wurde. »Es ist fantastisch, Pasquale«, rief sie. Dunstig-klar traf das ausgewaschene Blau des Himmels unter leichten Wolkentupfen auf das dunklere Meer.
Wie Spinnweben zogen sich Pfade über die Berge. Er deutete auf einen Steig, der die Küste entlang nach Norden führte. »Dort Cinque Terre.« Dann wies er hinter sich nach Osten über die Hügel zur Bucht. »Dort La Spezia.« Schließlich wandte er sich nach Süden und zeigte ihr den Weg, den sie einschlagen mussten; er kerbte sich einen Kilometer weit durch die Hügel, ehe er hinabtauchte in das furchige, unbewohnte Tal, das parallel zum Meeressaum verlief. »Dort Portovenere. Ist leicht zuerst, dann schwer. Nur für Ziegen ist Pfad von Venere.«
Über eine Reihe einfach zu begehender Serpentinen folgte sie Pasquale durch die steilen Klippen. Diese waren zerklüftet, wo sie auf das Meer stießen, doch hier oben war das Gelände sanfter. Trotzdem mussten sich Dee und Pasquale einige Male an zotteligen Bäumen und Ranken festhalten, um die steilen Hänge hinauf- und hinunterzuklettern. Auf einem Felshöcker blieb Dee vor den Überresten eines Steinfundaments stehen: von Wind und Wetter abgeschliffene römische Ruinen, die aussahen wie alte Zähne.
»Was war das?« Sie schob Büsche von dem glattgewetzten Stein.
Pasquale zuckte die Achseln. Seit Tausenden von Jahren benutzten Armeen diese Stelle als Aussichtspunkte über dem Meer; hier oben gab es so viele Ruinen, dass Pasquale sie fast gar nicht mehr bemerkte. Manchmal löste der Schutt dieser alten Stellungen trübe Trauer in ihm aus. Wenn das die Überreste eines Weltreichs waren, welche Spuren konnte dann ein Einzelner wie er hinterlassen? Einen Strand? Einen Tennisplatz in den Klippen?
»Komm«, sagte er, »ist bloß ein bisschen mehr.«
Nach fünfzig Metern zeigte ihr Pasquale, wo der Steig sich bergab wand in das noch immer über einen Kilometer entfernte Portovenere. Dann fasste er Dee an der Hand und verließ den Pfad. Zusammen kletterten sie über mehrere Steinblöcke und durch Gestrüpp, bis sie einen Punkt erreichten, von dem aus man einen atemberaubenden Blick auf beide Seiten der Küste hatte. Dee ächzte. »Komm«, forderte Pasquale sie erneut auf und ließ sich hinuntergleiten zu einem Felsensims. Nach kurzem Zögern folgte ihm Dee, und sie gelangten zu der Stelle, die er ihr zeigen wollte: eine kleine Betonkuppel in der gleichen Farbe wie der Fels der Umgebung. Nur die Gleichförmigkeit und die drei langen, rechteckigen Fenster verrieten, dass sie von Menschenhand gebaut worden war: ein Maschinengewehrbunker aus dem Zweiten Weltkrieg.
Der Wind spielte mit ihrem Haar, als ihr Pasquale beim Hinaufklettern half. »Ist das aus dem Krieg?«
»Ja. Überall ist noch aus dem Krieg. War um zu sehen die Schiffe.«
»Hat es hier auch Kämpfe gegeben?«
»Nein.« Pasquale gestikulierte in Richtung der Klippen. »Zu …« Er runzelte die Stirn. Er wollte wieder einsam sagen, doch das Wort war nicht ganz richtig. »Isolato?«
»Isoliert?«
»Sì, ja.« Pasquale lächelte. »Krieg hier ist nur Jungen spielen schießen auf Boote.« Der Beton für den Bunker war in die Felsbrocken dahinter gegossen worden, sodass er von oben nicht erkennbar war und von unten wie normaler Fels aussah. Der über die Klippenkuppe ragende Maschinengewehrbunker hatte drei offene Fenster mit einem Zweihundertachtziggradblick über die gezackte Bucht von Porto Vergogna im Nordwesten und über die Felsenküste mit den weniger rauen Klippen von Riomaggiore, dem
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