Schöne Ruinen
seinem Bett. Er muss los. Auch sein alter Feind Foster hat einen Sohn zurückgelassen und erklärt sich bereit, mit Eddy aufzubrechen, obwohl sie beide noch schwach sind.
Im Lager erklärt Woodworth Eddy, dass der mehrere Meilen entfernte Pass wegen eines Frühlingsschneesturms ungangbar ist. Aber Eddy lässt sich nicht beirren. Er bietet Woodworths Soldaten zwanzig Dollar für jedes Kind, das sie über den Pass tragen. Einige Soldaten willigen ein und marschieren los. Bei der Überquerung des Passes kommen sie fast ums Leben. Schließlich stolpern Eddy, Foster und eine Handvoll Männer ins Donner-Lager. Ein Bild des Grauens bietet sich ihnen. Zerteilte Leichen im Schnee … Stücke, die wie Würste in einem Feinkostgeschäft herumliegen. Der Geruch … die Verzweiflung … wandelnde Gerippe, die kaum als Menschen zu erkennen sind. Mit letzter Kraft wankt William Eddy zu der Hütte, die er vor einigen Monaten errichtet und in der er und Foster ihre Familien zurückgelassen haben.
Fosters Sohn lebt noch! Foster weint, als er seinen Jungen an sich drückt. Aber Eddy … kommt zu spät. Sein Sohn ist vor wenigen Tagen gestorben. William Eddy hat seine gesamte Familie verloren. Die Wut packt ihn, als er den Schurken Keseberg erblickt, der vielleicht seine Kinder gefressen hat, einen Mann, der eigentlich nur noch ein Tier ist. Eddy macht einen Schritt nach vorn, um ihn zu töten … aber er kann es nicht. Er sinkt zusammen und schaut wieder hinauf zum Himmel, zum Himmel, aus dem diese erste Schneeflocke auf ihn gefallen ist. Und dann vergräbt er das Gesicht in den Händen. Foster tritt hinzu, um Keseberg umzubringen, doch William Eddy, der nur noch ein Häufchen Elend ist, mahnt: »Nein.« Denn Eddy weiß, dass das Böse in jedem Menschen schlummert, dass wir letzten Endes alle Tiere sind. »Lass ihn am Leben.«
William Eddy hat einfach … überlebt. Und als er sich dem Horizont zuwendet, erkennen wir, dass das vielleicht alles ist, was wir erwarten können. Überleben. Gefangen in den tobenden Strömungen der Geschichte, des Leids und des sicheren Todes gelangt der Mensch zu der Einsicht, dass er machtlos ist, dass all sein Vertrauen auf sich selbst nur Einbildung ist … ein Traum. Also tut er, was in seinen Kräften steht, er ringt mit dem Schnee, mit dem Wind und mit seinen eigenen animalischen Gelüsten, und das ist das Leben. Für die Familie, für die Liebe, für die schlichte Anständigkeit muss ein guter Mann gegen die Natur und die Brutalität des Schicksals ankämpfen, doch es ist ein Krieg, den er nicht gewinnen kann. Jede Liebe ist die gleiche Liebe, sie besitzt die gleiche, alles verzehrende Kraft und erschütternde Schönheit dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Wir lieben. Wir tun unser Bestes. Wir sterben allein.
In dem Schneefeld auf dem Bildschirm ziehen in zehn Sekunden einhundertfünfzig Jahre vorbei, Zuggleise erscheinen, Straßen werden gebaut, dann Häuser, die ersten Autos fahren auf dem Weg nach Tahoe über den Truckee-Pass, es folgt ein Highway, und dieser einst unpassierbare Ort wird zu einem von vielen Autobahnabschnitten. Wir werden konfrontiert mit der grausamen Leichtigkeit heutiger Reisemöglichkeiten, doch dann zoomen wir auf den Wald, und die Wahrheit des Menschlichen bleibt: die Bäume, der Berg, das unergründliche Gesicht der Natur und des Todes.
Und so schnell, wie der Highway aufgeblitzt ist, ist er auch wieder verschwunden: der Traum, die Halluzination, dieVision eines gebrochenen Mannes. Dann ist es wieder ein entlegener Bergpass des Jahres 1847. Die Welt um ihn herum ist still wie der Tod. Der Abend bricht herein. Und William Eddy reitet allein hinaus in die Ferne.
8
Das Grand Hotel
April 1962
Rom
P asquale schlief unruhig in einem teuren kleinen Albergo in der Nähe des Hauptbahnhofs. Es war ihm ein Rätsel, wie die Gäste römischer Hotels bei diesem Lärm schlafen konnten. Er stand früh auf, schlüpfte in Hose, Hemd, Krawatte und Jackett, trank einen Caffè und nahm dann ein Taxi zum Grand Hotel, wo die amerikanischen Filmleute wohnten. Zur Vorbereitung rauchte er auf der Spanischen Treppe noch eine Zigarette. Händler bauten Blumenstände auf, und es sausten bereits die ersten Touristen mit zusammengefalteten Stadtplänen in der Hand und Kameras um den Hals herum. Pasquale vertiefte sich in den Zettel, den ihm Orenzio gegeben hatte, und sprach den Namen leise aus, um nachher keinen Fehler zu machen.
Ich möchte zu … Michael Deane. Michael Deane. Michael
Weitere Kostenlose Bücher