Schöne Ruinen
vor Bedauern, starrte ihn Lydia an und nahm die Mütze wieder an sich. Meine Güte, Pat , antwortete sie leise. Du klingst ja wie ein Epiphaniesüchtiger.
Der Ire Joe hatte einen Kumpel in London namens Kurtis, ein riesiger, kahlköpfiger Hip-Hop-Hooligan, und sie wohnten in dem engen Apartment in Southwark, das sich Kurtis mit seiner bleichen Freundin Umi teilte. Pat war noch nie in London gewesen – war bisher überhaupt nur einmal nach Europa gekommen, zu einem Schüleraustausch, den seine Mom arrangiert hatte, weil sie wollte, dass er Italien kennenlernte. Doch er schaffte es nicht bis dorthin: Ein Mädchen in Berlin und eine Prise Koks sorgten dafür, dass er wegen mehrerer Verstöße gegen die Reiseregeln und den menschlichen Anstand nach Hause geschickt wurde. Bei den Reticents war immer die Rede von einer Japan-Tour, und irgendwann wurde ein Bandwitz daraus, wie Pat und Benny ihre einzige echte Chance ausgeschlagen und sich geweigert hatten, als Vorgruppe der Stone Temple Douchebags zu spielen. Pat stand also sein erster Auftritt außerhalb Nordamerikas bevor.
»Portland«, meinte die bleiche Umi bei der ersten Begegnung mit ihm, »wie die Decemberists.« Das Gleiche hatte Pat in den Neunzigern erlebt, wenn er New Yorkern erzählte, dass er aus Seattle kam: Anerkennend erwähnten sie Nirvana oder Pearl Jam, und Pat musste dann jedes Mal Verbundenheit mit diesen stinkenden Hinterwäldlerposeuren in Flanellhemden vortäuschen. Komisch, dass jetzt auch Portland, der doofe kleine Bruder von Seattle, diesen alternativ-coolen Status besaß.
Dem ursprünglichen Plan zufolge sollte Pat seine erste Vorstellung in London in dem Kellerclub Troupe geben, wo Kurtis als Türsteher arbeitete. Doch nach seiner Ankunft fand Joe, dass Edinburgh ein besseres Sprungbrett für ihn sei. Pat sollte dort an seiner Show feilen und sich mithilfe der Rezensionen zum Fringe-Festival einen Ruf für London erwerben. Also übte Pat eine kürzere, witzigere Version der Show ein – einen halbstündigen Monolog, der sich um sechs Songs rankte. (»Hi, ich bin Pat Bender, und wenn ich euch bekannt vorkomme, dann deshalb, weil ich früher der Sänger in einer von diesen Bands war, von der eure manierierten Freunde immer geredet haben, um mit ihrem obskuren Musikgeschmack anzugeben. Entweder das, oder wir haben schon mal im Klo von irgendeinem Club gefickt. Je denfalls tut es mir leid, dass ich nichts mehr von mir hab hören lassen.«)
Er machte einen Probelauf für Joe und dessen Freunde in der Wohnung. Eigentlich wollte er sich mit den düsteren Sachen zurückhalten und »Lydia«, den einzigen ernsthaften Song aus dem abgespeckten Programm, streichen, doch Joe war dagegen. Für ihn war das Stück der »emotionale Höhepunkt der ganzen Show«. Also behielt Pat es drin, und als er es spielte, nahm Joe wieder die Brille ab, um sich die Augen abzuwischen. Nach der Probe äußerte sich Umi genauso optimistisch wie Joe über die Aussichten des Programms. Sogar der stille, finstere Kurtis fand es »ziemlich gut«.
Die Londoner Wohnung hatte nackte Rohrleitungen und einen alten, schimmeligen Teppichboden, und in der Woche, die sie dort verbrachten, fühlte sich Pat nie richtig zu Hause – zumindest nicht so wie Joe, der den ganzen Tag zusammen mit Kurtis in schmutzigen grauen Boxershorts herumsaß und sich zudröhnte. Wie sich herausstellte, hatte Joe ein wenig übertrieben, als er sich als Veranstalter bezeichnete; er war eher ein Mitläufer und Dopedealer, und gelegentlich kamen Leute vorbei, um bei ihm ihren Bedarf zu decken. Nach mehreren Tagen mit diesen Kids spürte Pat den Altersunterschied von zwanzig Jahren immer deutlicher: obskure Anspielungen auf Musik, schlampige Trainingsanzüge, die Selbstverständlichkeit, mit der sie ewig schliefen, nie duschten und gar nicht merkten, dass es schon halb zwölf war und sie noch immer alle in der Unterwäsche waren.
Pat konnte nicht mehr als ein paar Stunden am Stück schlafen, deshalb verkrümelte er sich am Morgen, wenn die anderen noch im Bett lagen. Er lief durch die Stadt und versuchte, sich alles einzuprägen, doch er verirrte sich ständig in den gewundenen, engen Straßen mit den jäh wechselnden Namen und den Hauptverkehrsadern, die in kleinen Gassen endeten. Von Tag zu Tag fühlte sich Pat orientierungsloser, weniger wegen der Stadt selbst, als wegen seiner Unfähigkeit, sie zu verarbeiten, und wie bei einem mürrischen alten Mann wurde seine Jammerliste immer länger: Warum kann ich
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