Schöne Ruinen
mir nicht merken, wo ich bin und in welche Richtung ich schauen muss, wenn ich die Straße überquere? Warum sind die Münzen so komisch? Sind die Gehsteige alle so voll? Wieso ist alles so teuer? Weil er völlig pleite war, konnte Pat nur herumstreunen und sich Dinge ansehen, meistens in Museen mit freiem Eintritt, die ihn allmählich mit ihren Eindrücken überfluteten: Saal um Saal mit Gemälden in der National Gallery, historische Kunstwerke im British Museum, alles im Victoria and Albert Museum. Er verpasste sich eine Überdosis Kultur.
Dann, am letzten Tag in London, spazierte Pat durch die riesige, leere Halle der Tate Gallery of Modern Art und wurde überwältigt von der Kühnheit der Kunst und der schieren Größe des Museums; es war, als wollte er den ganzen Ozean oder den Himmel in sich aufnehmen. Vielleicht lag es am Schlafmangel, doch er war körperlich erschüttert und geradezu angewidert. Oben durchstreifte er eine Sammlung surrealistischer Gemälde und fühlte sich ausgelöscht von dem hysterischen, dunklen Genie dieser Ausdruckskraft: Bacon, Magritte und vor allem Picabia, der laut Ausstellungstext die Welt in zwei schlichte Kategorien unterteilt hatte: Gescheiterte und Unbekannte. Er war eine Laus unter einer Lupe, und die Kunst bündelte sich in einem glühend heißen Strahl, der sich in seinen schlaflosen Schädel bohrte.
Als er das Museum verließ, war Pat kurz davor zu hyperventilieren. Draußen wurde es nicht besser. Die futuristische Millennium Bridge schob sich wie ein Löffel in den Mund der St. Paul’s Cathedral, und das massive, furchtlose Aufeinanderprallen von Farbtönen, Zeitaltern und Genres verwirrte Pat noch mehr: Moderne gegen Neoklassizismus, Tudorstil gegen Wolkenkratzer.
Am anderen Ende der Brücke stieß Pat auf ein Quartett mit Cello, zwei Geigen und elektrischem Piano – Kids, die für Kleingeld über der Themse Bach spielten. Er setzte sich und hörte zu, atemlos und hingerissen von ihrer mühelosen Fingerfertigkeit, ihrer schieren Brillanz. Wenn Straßenmusiker so gut waren, was hatte er dann hier zu suchen? Was sein musikalisches Talent anging, war er schon immer unsicher gewesen; auf der Gitarre konnte er einigermaßen mithalten und auf der Bühne Gas geben, aber der Musiker in der Band war eigentlich Benny. Zusammen hatten sie Hunder te von Songs geschrieben, aber als er hörte, wie diese vier Milchgesichter ganz beiläufig ihren Kanon spielten, sah Pat selbst in seinen besten Stücken nur noch ironische Lappalien, klugscheißerische Kommentare zu echter Musik, flache Witze. Verdammt, hatte er denn jemals etwas Schönes zustande gebracht? Die Musik dieser Kids war wie eine jahrhundertealte Kathedrale; dagegen hatte Pats Lebenswerk ungefähr die Beständigkeit eines Filmtrailers. Für ihn war Musik im mer eine Pose gewesen; die Reaktion eines beleidigten Jungen auf ästhetische Anmut; sein ganzes Leben hatte er der Schönheit nur den Finger gezeigt. Jetzt fühlte er sich leer und zerrissen – ein Gescheiterter und ein Unbekannter. Ein Nichts.
Dann machte Pat etwas, was er schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Auf dem Weg zurück zu Kurtis’ Apartment sah er einen flippigen Musikladen mit knallrot umrahmtem Schaufenster, der Reckless Records hieß. Nachdem er ein bisschen gestöbert hatte, fragte er den Verkäufer, ob sie etwas von den Reticents hatten.
»Ah, Moment, genau.« Auf dem narbigen Gesicht des Verkäufers machte es klick. »Ende Achtziger, Anfang Neunziger … so eine Art Softpop-Punk …«
»Soft würde ich nicht unbedingt sagen …«
»Ja, eine von diesen Grungegruppen.«
»Nein, sie waren davor …«
»Von denen haben wir sicher nichts«, meinte der Verkäufer. »Wir haben eher, na ja, relevantere Sachen.«
Pat bedankte sich und verließ den Laden.
Das war wahrscheinlich der Grund, warum er mit Umi schlief, als er zurück in die Wohnung kam. Oder es lag einfach daran, dass sie allein in ihrer Unterwäsche war, nachdem Joe und Kurtis in ein Pub gegangen waren, um sich ein Fußballspiel anzusehen. »Okay, wenn ich mich setze?«, fragte Pat und starrte auf das kleine Dreieck ihres Slips, als sie die Beine über die Couch schwang. Kurz darauf fummelten sie schon aneinander herum und schaukelten schwerfällig dahin wie der Londoner Verkehr (Umi: Vielleicht sagen wir Kurty besser nichts davon ) , bis sie den richtigen Rhythmus gefunden hatten, und schließlich tat Pat Bender, was er schon so oft zuvor getan hatte: Er fickte sich zurück ins
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