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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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als würde sie den Namen nicht mögen). Sie drehte sich zur Seite. Diese neue Haarfarbe war ein Fehler. Ein Jahrzehnt lang hatte sie gegen die schreckliche Eitelkeit ihrer Jugend angekämpft und fest darauf gehofft, mit achtunddreißig Jahren endlich zu den Frauen zu gehören, die mit ihrem Alter im Reinen waren, doch diesen Punkt hatte sie noch nicht erreicht. Noch immer erschien ihr jedes graue Haar wie ein Käfer im Blumenbeet.
    Sie betrachtete die Bürste. Wie viele Millionen Striche durchs Haar, wie viele Gesichtswäschen und Sit-ups, wie viel Mühen hatte sie auf sich genommen – und alles nur, um Worte zu hören wie: schön, hübsch, sexy. Früher hatte Debra ihr Aussehen als selbstverständlich hingenommen; sie brauchte keine Bestätigung – kein »Miss Farrah«, keinen lüstern blickenden L.E. Steve, keine unbeholfene, süße Mona (»Wenn ich aussähe wie du, Debra, würde ich die ganze Zeit masturbieren«). Aber jetzt? Dee legte die Haarbürste weg und starrte sie an wie einen Talisman. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind in so eine Bürste hineingesungen hatte; sie fühlte sich noch immer wie ein Kind, wie eine nervöse, bedürftige Fünfzehnjährige, die sich auf eine Verabredung vorbreitete.
    Die Nervosität war vielleicht nicht unbedingt erstaunlich. Vor zwei Jahren war ihre letzte Beziehung zu Ende gegangen – mit dem Gitarrenlehrer ihres Sohnes Pat. Sie hatte den kahlen Marv gemocht (Pat verpasste allen Männern in ihrem Leben einen Spitznamen) und geglaubt, dass es mit ihm etwas werden könnte. Er war älter, Ende vierzig, hatte zwei Töchter aus einer gescheiterten Ehe und war ganz scharf darauf gewesen, dass »sich die Familien zusammentaten«. Allerdings fand er diese Idee nicht mehr ganz so gut, als er und Debra eines Abends nach Hause kamen und auf Pat stießen, der sich im Bett mit Marvs fünfzehnjähriger Tochter Janet zusammengetan hatte.
    Bei Marvs Ausbruch spielte sie mit dem Gedanken, Pat zu verteidigen – warum werden solche Situationen immer den Jungen angekreidet? Schließlich war Marvs Tochter zwei Jahre älter. Doch so war Pat eben, und stolz wie ein in die Enge getriebener Bond-Schurke gestand er seinen ausgefeilten Plan. Es war seine Idee, sein Wodka, sein Kondom. Debra war nicht überrascht, dass der kahle Marv die Sache beendete. Sie hasste Trennungen und vor allem das unaufrichtige Gerede – im Moment ist das nicht das Richtige für mich , als hätte die andere Seite gar nichts damit zu tun. Doch Marv nahm kein Blatt vor den Mund: »Ich liebe dich, Dee, aber für diesen Scheiß zwischen dir und Pat hab ich nicht genug Kraft.«
    Zwischen dir und Pat. War es wirklich so schlimm? Vielleicht. Drei Beziehungen zuvor hatte Overall-Carl, der Maurermeister, der an ihrem Haus gearbeitet hatte, auf Heirat gedrängt, aber verlangt, dass sie Pat zuerst in eine Militärschule stecke. »Meine Güte, Carl«, hatte sie geantwortet, »er ist doch erst neun.«
    Und jetzt war L.E. Steve dran. Wenigstens lebten seine Kinder bei der Mutter; vielleicht kamen diesmal keine Zivilisten zu Schaden.
    Sie ging durch den engen Flur, vorbei an Pats Schulfotos – o Gott, dieses Grinsen, auf jedem Bild dieses feuchtäugige, Schau-mich-an- Kinnspaltengrinsen. Das Einzige, was sich an seinen Schulfotos änderte, war das Haar (fluffig, Dauerwelle, Zeppelin-Mähne, stachelig); der Ausdruck von dunklem Cha risma war immer da.
    Pats Zimmertür war geschlossen. Sie klopfte leise, doch anscheinend hatte er den Kopfhörer auf, denn er antwortete nicht. Pat war inzwischen fünfzehn, eigentlich alt genug, um allein zu Hause zu bleiben, ohne dass sie sich jedes Mal mit einer großen Rede verabschiedete. Doch sie konnte nicht anders.
    Nachdem sie erneut geklopft hatte, öffnete Debra die Tür und sah Pat, der im Schneidersitz mit seiner Gitarre auf dem Schoß unter einem Pink-Floyd-Poster hockte, auf dem Licht durch ein Prisma fiel. Er hatte die Hand nach der obersten Schublade seines Nachttischs ausgestreckt, als hätte er gerade etwas hineingestopft. Sie stürmte ins Zimmer und schob einen Kleiderstapel aus dem Weg. Pat nahm den Kopfhörer ab. »Hi, Mom.«
    »Was hast du in der Schublade versteckt?«, fragte sie.
    »Nichts«, antwortete er zu schnell.
    »Pat. Willst du mich dazu zwingen, selbst nachzuschauen?«
    »Niemand zwingt dich zu irgendwas.«
    Auf dem unteren Regalboden des Nachttischs bemerkte sie die eselsohrigen Seiten von Alvis’ Buch oder besser von dem einen Kapitel, das er geschrieben hatte. Sie

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