Schöne Ruinen
hatte es Pat vor einem Jahr geschenkt, nach einem heftigen Streit, in dessen Verlauf er sie damit konfrontiert hatte, dass er wünschte, er hätte einen Vater, zu dem er jetzt ziehen könne. »Das war dein Vater«, erklärte sie damals in der Hoffnung, dass die vergilbten Seiten etwas enthielten, was dem Jungen einen Halt verlieh. Dein Vater. Inzwischen glaubte sie es fast selber. Alvis hatte immer darauf gedrungen, Pat die Wahrheit zu sagen, sobald er alt genug war, um zu verstehen, doch die Jahre waren vergangen, und Debra hatte noch immer keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte.
Wie auf einem Bild aus einem Erziehungsratgeber verschränkte sie die Arme. »Also, machst du die Schublade auf, oder mache ich es?«
»Wirklich, Mom … Es ist nichts. Glaub mir.«
Sie trat zum Nachttisch, und er legte seufzend die Gitarre weg, um die Schublade zu öffnen. Er schob einige Dinge herum und zog schließlich eine kleine Marihuanapfeife heraus. »Ich hab nicht geraucht. Ich schwöre.« Sie berührte die Pfeife. Sie war kalt, kein Gras darin.
Sie durchsuchte die Schublade, kein Marihuana. Bloß der übliche Kram: zwei Armbanduhren, mehrere Gitarrenplektren, sein Kompositionsheft, Kugelschreiber und Bleistifte. »Die Pfeife behalte ich«, verkündete sie.
»Klar.« Er nickte einsichtig. »Ich hätte sie nicht haben dürfen.« Wenn er in der Klemme steckte, wurde er immer merkwürdig ruhig und vernünftig. Dieser Wir-sitzen-doch-alle-im-selben-Boot -Modus hatte ihr schon immer den Wind aus den Segeln genommen; fast, als wollte er ihr beim Umgang mit einem besonders schwierigen Kind helfen. Schon mit sechs hatte er diese Fähigkeit bewiesen. Einmal war sie kurz hinausgegangen, um die Post zu holen, und nach einem kurzen Plausch mit der Nachbarin ins Wohnzimmer zu Pat zurückgekehrt, der gerade einen Topf Wasser auf die kokelnde Couch schüttete. »Wow«, sagte er, als hätte er das Feuer entdeckt und nicht gelegt. »Zum Glück bin ich noch rechtzeitig gekommen.«
Jetzt hielt er den Kopfhörer hoch. Themenwechsel. »Der Song würde dir gefallen.«
Sie fixierte die Pfeife in ihrer Hand. »Vielleicht bleib ich lieber zu Hause.«
»Komm schon, Mom. Es tut mir leid. Manchmal spiele ich beim Schreiben mit Sachen rum. Aber ich war schon seit einem Monat nicht mehr high – das schwöre ich. Jetzt geh zu deinem Date.«
Sie starrte ihn an, um herauszufinden, ob er log, aber sein Blick war so unverwandt wie immer.
»Oder suchst du nur nach einer Ausrede, damit du nicht ausgehen musst?«
Es war typisch für ihn, dass er den Spieß umdrehte, indem er sie mit der Wahrheit konfrontierte. Denn seine Vermutung stimmte wahrscheinlich.
»Entspann dich«, mahnte er. »Hab Spaß. Weißt du was? Ich borg dir meine Sportklamotten. Steve steht besonders auf enge graue Shorts.«
Trotz allem musste sie lächeln. »Ich glaube, ich bleibe bei meinen Sachen, danke.«
»Hinterher wird er dich bestimmt zum Duschen schicken.«
»Meinst du?«
»Ja: Aufstellen, Dehnen, Hockey, Dusche. So sieht das Traum-Date von L.E. Steve aus.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ein echter Tor.« Auch das war typisch für Pat: Er stellte seinen Wortschatz zur Schau und machte sich zugleich über den Mann lustig, mit dem sie verabredet war.
»Ein Tor?«
»Aber frag ihn nicht, ob er ein Tor ist, weil er dir sonst die Hockey-Regeln erklärt.«
Wieder lachte sie, obwohl es ihr eigentlich gegen den Strich ging. Aus wie vielen Scherereien hatte sich Pat auf diese Weise herausgewunden? Besonders Lehrerinnen waren machtlos. Er bekam Bestnoten, ohne zu lernen, überredete Klassenkameraden, seine Hausaufgaben zu machen, brachte Rektoren dazu, fünf gerade sein zu lassen, schwänzte die Schule und ließ sich die abstrusesten Gründe für seine Abwesenheit einfallen. Bei Schulkonferenzen zuckte Debra innerlich zusammen, wenn ein Lehrer sie auf ihre Diagnose, auf Pats Ausflug nach Südamerika oder auf den Tod seiner Schwester ansprach. Und dann noch sein bedauernswerter Vater: ermordet, verschwunden im Bermudadreieck, erfroren auf dem Mount Everest. Jedes Jahr starb der arme Alvis an einer anderen Ursache. Dann, so um seinen vierzehnten Geburtstag herum, gelangte Pat offenbar zu der Erkenntnis, dass er gar nicht lügen musste, um etwas zu bekommen; dass es noch wirkungsvoller und amüsanter war, den Leuten einfach in die Augen zu schauen und ihnen genau zu sagen, was er wollte.
Manchmal fragte sie sich, ob ein Vater einen Ausgleich zu ihrer Nachgiebigkeit geschaffen hätte;
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