Schöne Ruinen
sich eigentlich nur um sie. Ich habe sie geliebt; ich war ihr Spielzeug, wie eine Puppe, die sie angezogen haben. Als ich ungefähr sechs war, hat meine älteste Schwester Olivia eine Essstörung entwickelt.
Es war schrecklich. Olivia war dreizehn, und sie ist ständig ins Bad gerannt, um sich zu übergeben. Ihr Pausenbrotgeld hat sie für Diätpillen ausgegeben und Essen in ihren Kleidern rausgeschmuggelt. Zuerst haben meine Eltern sie angebrüllt, aber das hat nichts genutzt. Es war ihr egal. Als ob sie verkümmern wollte. Irgendwann hat man die Knochen an ihren Armen gesehen, und die Haare sind ihr ausgefallen.
Meine Eltern haben alles probiert. Therapeuten und Psychologen, stationäre Behandlung. Meine Ex glaubt, dass sie damals so überfürsorglich geworden sind – ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich eines Nachts im Bett lag und gehört habe, wie meine Mutter weint und mein Vater versucht, sie zu trösten. Mom hat ständig bloß gesagt: ›Mein Baby hungert sich zu Tode.‹« Noch immer hat Shane die Socke in der Hand und starrt sie gedankenverloren an, ohne sie anzuziehen.
»Und was ist dann passiert?«, fragt Claire leise.
»Hm?« Er fährt auf. »Ach, ihr geht’s inzwischen gut. Die Behandlung hat geholfen, oder vielleicht war es was anderes. Olivia hat es einfach … überwunden. Sie tut sich noch immer nicht ganz leicht damit – sie ist diejenige, die zu Thanksgiving nie Essen mitbringt, sondern Tischschmuck. Kleine Kürbisse oder Füllhörner. Und das Wort Brownies darf man in ihrer Gegenwart nicht erwähnen. Doch sie hat es geschafft. Hat diesen Volltrottel geheiratet, aber sie sind glücklich miteinander. Haben zwei Kinder. Das Komische ist … der Rest der Familie spricht nie über diese Zeit. Selbst Olivia tut das Ganze ab, als wäre nichts gewesen. ›Meine mageren Jahre‹, sagt sie immer.
Nur ich hab es nie überwunden. Mit sieben oder acht hab ich in der Nacht wach gelegen und Gott versprochen, dass ich in die Kirche gehe oder Pfarrer werde, was weiß ich, wenn er Olivia wieder gesund macht. Und als es nicht gleich passiert ist – du weißt ja, wie Kinder sind –, hab ich mir Vorwürfe gemacht und das Hungern meiner Schwester auf meinen fehlenden Glauben zurückgeführt.«
Mit leerem Blick reibt er sich die Innenseite seines Arms. »Als ich in der Highschool war, ging es Olivia wieder gut, und ich hatte die religiöse Phase hinter mir. Doch seitdem war ich immer fasziniert von Geschichten über Hunger und Entbehrungen. Ich hab alles gelesen, was ich finden konnte, hab in der Schule Referate über die Belagerung Leningrads und die große Hungersnot in Irland gehalten … vor allem mochte ich Geschichten über Kannibalismus: die uruguayische Rugby-Mannschaft, Alfred Packer, die Maori … und natürlich die Donner-Party.«
Shane bemerkt die Socke in seinen Händen. »Wahrscheinlich hab ich mich identifiziert mit dem armen William Eddy, der selbst entkommen ist, aber nichts dagegen tun konnte, dass seine Familie in diesem schrecklichen Lager verhungert ist.« Zerstreut streift er die Socke über. »Als ich dann in Michael Deanes Buch gelesen habe, dass es beim Pitchen eines Films vor allem darum geht, an sich selbst zu glauben, war das wie eine Vision für mich. Ich wusste auf einmal genau, mit welcher Geschichte ich mich vorstellen musste.«
Eine Vision? An sich selbst glauben? Claire fragt sich, ob es vielleicht dieses Mach-es-einfach-Mann- Selbstvertrauen ist, auf das Michael gestern reagiert hat. Und sie danach am Abend. Weiß der Geier, möglicherweise reicht die Leidenschaft dieses Jungen, um Donner! zu realisieren. Leidenschaft : noch so ein Wort, das ihr im Hals stecken bleibt.
Als Claire wieder auf das Blackberry schielt, bemerkt sie eine E-Mail von Michaels Produktionspartner Danny Roth. Der Betreff lautet Donner! Anscheinend hat Michael Danny angerufen und ihm von Shanes Pitch erzählt. Vielleicht ist es Danny gelungen, Michael zur Vernunft zu bringen. Sie öffnet die E-Mail, die in der gequälten, gehetzten, dämlichen Kurzschrift verfasst ist, mit der Danny riesige Mengen an Zeit zu sparen glaubt.
C- Mchl sagt, du machst Mo Pitch für Unvsl über Donner. Muss gut rüberkommen, btr. Vertrag. Frag ob Autor Storyboard oder Hintergrmat hat, irgendwas das aussieht, als wären wir schon weiter. Ernste Gesichter. Danny
Sie bemerkt, dass Shane sie von der Bettkante aus beobachtet. Dann wendet sie sich wieder Dannys E-Mail zu. Muss gut rüberkommen … Warum soll es
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