Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
war aber nie um ihrer selbst willen untersucht worden.
1982 kam der Metallurg Dann Passoja zu mir und schilderte mir seinen Eindruck, dass die fraktale Dimension langfristig ein Maß für die Rauheit von Dingen wie den Brüchen in Metallen liefern könnte. Experimente bestätigten seinen Hinweis, und 1984 schrieben wir für Nature einen Aufsatz. Dieser Artikel zog eine Menge Folgearbeiten nach sich und schuf letztlich ein Gebiet, das sich mit der Messung von Rauheit befasst. Den Inhalt des Aufsatzes stelle ich seither auf Seite 1 jeder Schilderung meines Lebenswerkes ein.
Vor meiner Arbeit über Rauheit war sie entweder nicht definiert oder wurde mit zu vielen belanglosen quantitativen Größen gemessen. Inzwischen lässt sie sich mit einer, zwei oder einigen wenigen Zahlen messen.
Die Brown’sche Küstenlinie führt mich zu der Zahl 4/3
Gewicht ist lange durch Zahlen gemessen worden, und Empfindungen wie Farbe und Lautstärke haben längst bereinigte Formen angenommen, denen man eine wohldefinierte und messbare Frequenz zuordnen kann. Was aber ist mit der Rauheit? Als der große Philosoph Platon über Sinneswahrnehmungen schrieb, behandelte er die Rauheit nur in wenigen Zeilen. Kurz vor meiner Geburt wies der Mathematiker Felix Haussdorff (1868–1942) diesen irregulären, als Ungeheuer bezeichneten mathematischen Formen eine Zahl zu, der er den Namen »Dimension« gab – den Begriff habe ich hier bereits häufiger erwähnt. Ich hatte von ihren merkwürdigen mathematischen Eigenschaften gehört und fragte mich, ob sie unheilbar theoretisch sei oder ob sie aus der Ecke der reinen Kuriositäten herausgeholt und neu gedeutet werden konnte – als etwas, was intuitiv, konkret und sogar praktisch anwendbar war. Und das ist tatsächlich der Fall! Das Sahnehäubchen auf diesem Kuchen ist die Geschichte der Brown’schen Insel-Küstenlinie. Das Auf und Ab der Brown’schen Bewegung schien zunächst in Bacheliers fehlgeleitetem, aber tiefgründigem Modell der Kursänderungen auf. Vergessen wir nun einmal die Aktienkurse und stellen uns einen Punkt vor, der sich auf einem Blatt Papier in der Weise bewegt, dass seine Bewegungen zur linken und unteren Seite des Blattes voneinander unabhängige Brown’sche Bewegungen sind. Von diesem Punkt sagt man, er führe eine Brown’sche Bewegung in der Ebene aus. Diese Vorstellung wurde in Physik und Mathematik weithin verwendet. Allerdings ist es ziemlich seltsam, dass ich tatsächlich nie von jemandem gehört habe, dass er das Modell anhand realer Beispiele untersucht hätte. Also zeichnete ich ein sehr langes Beispiel für eine Brown’sche Bewegungsfolge und forderte mich selbst heraus. Ich bemühte mich, zwei durch mathematische Überlegungen bereits etablierte Eigenschaften zu verschmelzen und nach neuen Eigenschaften zu suchen, die ich vielleicht mittels einer geschickten visuellen Inspektion beobachten konnte.
Meine ersten Bemühungen blieben erfolglos. Jede mögliche Neuerung wurde von einer Vielfalt wirrer alter Strukturen überwältigt, die unbedingt entfernt werden mussten
Insbesondere waren meine Brown’schen Intervalle aus einer gewissen ästhetischen Perspektive fehlerhaft – unnatürlich; diese Sichtweise ist uns in einer weit einfacheren Form vertraut, wenn die Endpositionen des Intervalls einer Geraden sich von dessen mittlerem Anteil unterscheiden. Als Erstes eliminierte ich diese Komplikation, indem ich eine Schleife schuf – in der Art, wie das Geradenintervall von 0 bis 1 in einen Kreisumfang verwandelt wird. Wenn man die Brown’sche Bewegung zwang, an ihrem Ausgangspunkt zu enden, ergab das eine erkennbar neue Form, die ich als Brown’sches Cluster bezeichne. Doch auch das zeigte noch zu viele irrelevante Details, und um diese bedeutungslose Komplexität loszuwerden, war ein weiterer Schritt erforderlich. Nach vielen falschen Anläufen zerlegte ich das Bild in zwei Teile, indem ich »malte«: weiß für alle Punkte in der Ebene, die aus großer Entfernung zu erreichen waren, und schwarz für jene Punkte, die durch den einen oder anderen Abschnitt einer Brown’schen Bewegung aus großer Entfernung dorthin projiziert wurden. Das Resultat war erstaunlich.
Sofort – aber keine Sekunde früher! – tauchte eine interessante neue Insel auf. Automatisch erkannte mein visuelles Gedächtnis einige echte Inseln, aber auch einige Inseln, die durch von mir entworfene fraktale Computermodelle entstanden waren. Die Küstenlinie der neuen Insel regte eine neue
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