Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
die fraktale Geometrie in den höheren Schulen unterrichtet. Deshalb haben wir vor mehreren Jahren Ihren Namen gehört und Ihre mathematischen Bilder gesehen und einfach angenommen – ohne uns etwas dabei zu denken –, dass Sie schon seit langer Zeit tot sind. Sie hätten auch kurz nach Newton leben können. Kaum zu glauben, dass wir tatsächlich von Ihnen selbst hören konnten, wie Sie erstmals auf etwas gekommen sind, was Teil unserer Arbeit in der Schule ist. Es wäre ein tolles Erlebnis, Ihnen die Hand zu drücken – ein großes Ereignis.«
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Worte einer bezaubernden jungen Dame – anscheinend sprach sie für eine Gruppe von College-Studenten, die gerade einen meiner Vorträge bevölkert hatte. Selbstverständlich schüttelte ich der jungen Dame mit Freuden die Hand. Frappierende Formen der Schmeichelei! Jede ließ mich im siebten Himmel schweben! Ich versuche es stärker auszudrücken: Gelegenheiten wie diese machen mein Leben lebenswert.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
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Schönheit und Rauheit – der Kreis schließt sich
Erinnerungen sind eine Lektion in Bescheidenheit. Ich bin 1924 geboren, und dieses Buch wurde 2010 vollendet. Für eine angemessene Sicht auf meine persönlichen Leistungen spielen diese beiden Daten tatsächlich eine große Rolle. Die große Wirtschaftskrise beherrschte die ersten von mir erinnerten Weltnachrichten, und eine weitere Depression droht meine letzten Tage zu dominieren. Die letzte Phase meiner Jugend fiel mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen, den ich im verarmten Hügelland Zentralfrankreichs verbrachte. Mein Überleben war ständig bedroht, doch meine Träume konnten sich frei bewegen und bildeten die Grundlage meiner Zukunft.
Ist es von Bedeutung, dass ich in die Forschungsabteilung von IBM stolperte, als deren goldenes Zeitalter begann, und dort bis zu dem Tag blieb, an dem es zu Ende ging? Dass es mir an diesem Ort schließlich gelang, meine Träume aus der Kriegszeit umzusetzen?
Ich bin sicher, dass aus dem Jahrgang 1924 viele zu Wissenschaftlern geworden sind. Was ließ mich in eine Rolle hineinwachsen, die andere verfehlten oder verschmähten? Das habe ich mich stets gefragt, und dieses Buch habe ich geschrieben, weil ich mich selbst verstehen möchte.
Als ich fünfunddreißig wurde, überdachte ich mein Leben. Hatte ich in meinem Traum, der Wissenschaft meinen Stempel aufzudrücken, wirklich »den Zug verpasst«? Mir ist sehr genau bewusst, dass mich diese Befürchtung überraschend spät im Leben dazu brachte, mich neu zu erfinden – als ich meine bekannteste Arbeit vollbrachte. Meine Neugründung der Finanzwirtschaft fand statt, als ich auf die 40 zuging, und die Entdeckung der Mandelbrot-Menge gelang mir mit 55 Jahren. Wie viele Zeitzeugen festgestellt haben, sind das für einen Wissenschaftler ungewöhnlich – erstaunlich – späte Altersstufen. Und die Zahl der möglichen Rollenvorbilder, die ich erwog, aber nicht wählte, ist herzzerreißend groß gewesen.
Wäre meine Arbeit über variierende Preise in den Sechzigerjahren akzeptiert worden, hätte ich mich vielleicht als zufriedener Sklave meiner Schöpfung zur Ruhe gesetzt. Wer weiß? Aber die Ereignisse entwickelten sich anders. Ich war ausgeschlossen worden, um mein ruheloses intellektuelles Leben neu zu überdenken. Kein offizieller Prozess wie der von Galilei musste mich bestrafen, weil ich versucht hatte, unerlaubte Ideen zu verbreiten. Niemand hörte zu, und ich musste meinen Kopf nicht zur Seite wenden und sehr, sehr leise sagen: »Und sie bewegt sich doch.«
Was hat mich ständig zu Problemen hingezogen, welche die Wissenschaft entweder nie berührt oder seit langer Zeit aufgegeben hatte, weshalb ich mich dauernd wie ein Fossil fühlte? Vielleicht ein Defizit in richtiger formaler Bildung. Meine Jugend während des Kriegs und der Besatzungszeit Frankreichs wurde von überholten Büchern erhellt, von alten und ohne Lösung zu den Akten gelegten Problemen und zeitlosen Fragen. Die Form der Geometrie, die ich immer mehr bevorzugte, ist ihre älteste, konkreteste und umfassendste Form; ihre Stärke erhält sie speziell durch das Auge und mithilfe der Hand und heute auch durch den Computer. Zur rechten Zeit zeigte sich, dass es sich um einen schwer fassbaren Punkt handelte, wo Formel und Abbildung gleichberechtigt aufeinandertreffen, wo die Theorie auf die reale Welt stößt, und wo Mathematik und harte Naturwissenschaft so mit der Kunst zusammenkommen, dass ihr
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