Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
der Farbcodierung des Resultats. Dann starten wir das Programm und warten darauf, dass der Schock sich im Hörsaal ausbreitet. »Die Formel erzeugt dieses Bild??? Wollen Sie mich veräppeln?« – »Abwarten, Sie haben ja noch überhaupt nichts gesehen. Wir wollen das ein wenig vergrößern und schauen, was dabei rauskommt.« – »Sie meinen, diese komplizierten Wirbel und Schnörkel stammen immer noch von derselben kleinen Formel?« – »Genau das.« Dieses Wunder erfordert keine weitere Diskussion. Man sieht die Bilder, erinnert sich an die schlichte Formel und ist verwundert.
Benoît schrieb und redete über fraktale Muster in Kunst, Architektur, Dichtkunst und Literatur. Es machte ihm riesige Freude, fraktale Aspekte zu finden, die er dank seines sorgsamen Auges für die subtilen Muster der Natur unfehlbar entdeckte – ob in der Kunst von Hokusai und Dalí, der Architektur von Eiffel, der Musik von Ligeti und Wuorinen, den Versen von Stevens oder den Stücken von Stoppard. Jedes neue Beispiel für Fraktale gefiel ihm. Selbstverständlich war Benoît eindeutig und oft schroff in seiner Kritik an falschen Anwendungen seiner Ideen. Angesichts der Spannweite dieser Fehlgriffe war sein Zorn verständlich.
© H.O. Peitgen und P.H. Richter
© Richard F. Voss
Nachdem Benoît mir von seiner Erkrankung berichtet hatte, versuchte ich ihn dazu zu bewegen, über seine Leistungen nachzudenken, über seine erstaunliche Hinterlassenschaft – genug, um ein Dutzend brillanter Wissenschaftler zufriedenzustellen. Stattdessen sprach er über die Arbeit, die noch zu tun blieb, Arbeit, die unvollendet bleiben würde – zumindest was ihn anging. Am meisten bedauerte er (wenn man von den nicht abgeschlossenen Erinnerungen absieht), dass er seine Ideen über negative Dimensionen in einem so unvollendeten Stadium zurücklassen musste. Wie so vieles in Benoîts Werk begann es mit einer einfachen, aber eleganten Frage. Ausgehend von der vertrauten Formel für die Dimension der Überschneidung zweier Mengen fragte Benoît: »Können wir einer negativen Lösung der Schnittformel einen Sinn geben?« Von einfachen Fragen … zu Berechnungen schlau gewählter Beispiele … zur Validierung mittels experimenteller Arbeit.
Ein weiteres nicht abgeschlossenes Gebiet, die Lückenhaftigkeit, nahm seinen Anfang, als Benoît feststellte, dass viele recht unterschiedlich aussehende Fraktale die gleiche Dimension besitzen – wie die Fraktale, die hier zu sehen sind. Benoît fragte sich, ob die Verteilung der Lücken in einem Fraktal durch irgendeine Zahl gemessen werden könnte. Das erwies sich als Herausforderung, doch erste Schritte wurden bereits unternommen. Es muss allerdings noch mehr folgen. Benoît sprach darüber, wie das Projekt weitergeführt werden könnte. Am Ende sorgte er sich um die Arbeit, nicht um seinen Ruf. Ich glaube, das galt für den gesamten weitgespannten Bogen seines Lebens.
© Mit freundlicher Genehmigung von Michael Frame
In einem lang zurückliegenden Sommer lagen mein Großvater und ich auf seiner Grundstückseinfahrt und beobachteten, wie am dunkler werdenden Himmel die Sterne herauskamen. »Dunkler werdend« ist nicht der richtige Ausdruck – der Abendhimmel ist nicht wirklich dunkler, er ist tiefer. Ich blickte in unmögliche Tiefen. Ich hatte den flüchtigen Eindruck einer erstaunlichen Überraschung, die knapp außerhalb der Reichweite lag, als würde ich gerade aufwachen. Was war das? Ein halbes Jahrhundert später erfuhr ich das von Benoît. Die Menschen erleben oft kurze Hinweise auf radikal andere Möglichkeiten, das einzuordnen, was sie gerade sehen, hören und spüren. Sehr wenige erleben mehr als einen flüchtigen Hinweis. Benoît verschob die ganze Welt unter unseren Füßen und gab Tausenden das Werkzeug, die Welt auf neue Weise zu sehen. Zu lernen, wie man das erkennt, ist für mich das klarste Beispiel für das Aufwachen.
Benoîts Lektion lautet: Finde das, was du liebst, und folge dem mit ganzem Herzen. Was du da verfolgst, mag nicht immer klar sein, aber wenn du durchhältst, wirst du es finden, und wenn das gelingt, wachst du auf. Was wir finden, gehört uns, und was jeder Einzelne findet, bereichert uns alle. Das, so glaube ich, ist Benoîts beste Lektion. Folge deiner Neugier, deiner Leidenschaft, wo immer das hinführt. Ob du eine neue Welt findest oder eine neue Schneeflocke, ist nicht so wichtig. Wie die Fraktale begreift man das Leben besser als Prozess und nicht als Ergebnis.
Benoît
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