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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Dilemmas. Viele der Wissenschaftsbereiche, mit denen ich mich befasste, gruppierten sich um Größen, denen man wohldefinierte finite Werte unterstellte – etwa die Längen von Küstenlinien. Doch diese finiten Werte ließen sich nicht eindeutig bestimmen. Misst man die Länge einer Küstenlinie mit kleineren Maßstäben, entdeckt man kleinere Merkmale, was wiederum zu größeren Messungen führt. Dass ich diese Gebiete untersuchte, war auf die Einsicht zurückzuführen, dass man diesen entscheidenden Größen infinite Werte erlauben musste.
    Wie kam es zu alledem? Mein Onkel Szolem und ich sind beide in Warschau geboren. Wir hatten beide ein gutes Auge und wurden bald als Mathematiker anerkannt. Doch die übertrieben aufregenden Zeiten, die der Fluch seiner und später meiner Adoleszenz waren, trugen dazu bei, uns zu jeweils unterschiedlichen Persönlichkeiten zu formen. Er fand Erfüllung als eng fokussierter Insider des Establishments, während ich mich zu einem schwer fassbaren Einzelgänger entwickelte.
    Der Onkel erlebte den Ersten Weltkrieg als Heranwachsender; er durchstreifte ein Russland, das von der Agonie der Revolution und des Bürgerkriegs erschüttert war. Früh wurde er in einen wohldefinierten und nicht visuell dominierten Bereich eingeführt – die klassische mathematische Analysis, wie sie wesentlich in Frankreich entwickelt worden war. Er verfiel ihr in lebenslanger leidenschaftlicher Liebe und gelangte bis an ihren Grund. Bald schon gab man ihm seine akademische Fackel in die Hand, und er trug sie brennend durch gute wie durch schlechte Zeiten.
    Ich erlebte den Zweiten Weltkrieg als Heranwachsender und fand Zuflucht im abgelegenen, verarmten Hochland Frankreichs. Anhand von überholten Mathematikbüchern voller Illustrationen wurde ich dort in eine von Bildern dominierte Welt eingeführt. Nach dem Krieg, als ich in die École Normale Supérieure aufgenommen worden war, wurde mir klar, dass eine von den Mysterien der realen Welt abgeschnittene Mathematik nichts für mich war, also nahm ich einen anderen Weg.
    Ein halbes Jahrhundert vor meiner Geburt behauptete Georg Cantor (1845–1918), das Wesen der Mathematik liege in ihrer Freiheit. Seine Kollegen schickten sich an, ein Bündel von Formen zu erfinden – das dachten sie zumindest –, die sie als »monströs« oder »pathologisch« bezeichneten. Ihre Studien drängten die Mathematik mit Absicht zu einer Flucht vor der Natur. Mithilfe von Computern zeichnete ich diese Formen und verkehrte den ursprünglichen Vorsatz in sein Gegenteil. Ich erfand noch viel mehr davon und erkannte einige als Werkzeuge, die vielleicht dazu beitragen konnten, eine Menge oft alter, konkreter Probleme zu lösen – »Fragen, die einst für Poeten und Kinder reserviert waren«.

© Richard F. Voss

© Mark Laff

© Sigmund Handelman

© Richard F. Voss

    Inmitten reinster Mathematik führte mich mein ungeniertes Spiel mit aufgegebenen »Pathologien« zu einer Reihe entlegener Entdeckungen. Eine als Mandelbrot-Menge bekannt gewordene, äußerst komplexe Gestalt ist als das komplexeste Objekt der Mathematik bezeichnet worden. Ich war der Erste, der Stapel von Bildern untersuchte und daraus viele abstrakte Vermutungen ableitete, die sich als extrem schwierig erwiesen, eine Menge harter Arbeit auslösten und viel Belohnung mit sich brachten.
    Innerhalb der Naturwissenschaften war ich einer der Ersten, der vertraute Formen wie Berge, Küstenlinien, Wolken, turbulente Strömungen, Galaxienhaufen, Bäume, das Wetter und zahllose andere Phänomene untersuchte.
    Was die Untersuchung menschlicher Tätigkeiten angeht, begann ich mit einer Kuriosität – einem Gesetz, das sich mit Worthäufigkeiten befasst. Den Höhepunkt erreichte ich mit dem »Fehlverhalten«, das in den Variationen spekulativer Märkte auftritt. Und auch zur Untersuchung der visuellen Kunst steuerte ich eine Kleinigkeit bei.

    Aber wo gehöre ich nun tatsächlich hin? Ich vermeide das Wort »überall«, weil es nur allzu leicht als »nirgendwo« verstanden werden kann. Stattdessen bezeichne ich mich, wenn jemand unbedingt auf einer Aussage besteht, als Fraktalisten. Eine Herausforderung, der ich mich immer wieder gegenübersah – und die ich nie ganz zu bewältigen verstand –, bestand darin, den Teilen wie dem Ganzen gerecht zu werden. In diesen Erinnerungen bemühe ich mich nach Kräften darum.
    Alles in allem ist die schlichte altmodische Rauheit in Wissenschaft und Kunst kein Niemandsland mehr. Ich

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