Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
und es war eines der wenigen, die über ein Telefon verfügten und in Fettschrift verzeichnet waren. Es ging ihm gut.
Das Tor von der Straße zum Hof wurde stets von einer Gruppe Bettler »bewacht«. Vaters normale Lieferanten und Käufer mussten oft bei uns übernachten, weil es in Warschau zwar Palasthotels und billige Absteigen gab, aber keine erschwinglichen Hotels für Geschäftsleute. Vaters Geschäfte basierten auf Vertrauen und Kredit; beides brach 1931, ein Jahr nach dem folgenreichen Abendessen, zusammen. Ich kann mich noch lebhaft an einen Besucher erinnern, der fragte, was denn geschehen sei. Mutter brachte einen großen Koffer voller Rechnungen herein und klappte ihn auf. »Keine ist bezahlt worden, weil alle bankrott sind, das ist passiert.« Unverdrossen ging Vater 1931 nach Paris, um bessere Lebensbedingungen zu schaffen; seine Familie holte er 1936 nach. Nachdem er aus Polen entkommen war, versuchte er zunächst, auch der Textilbranche zu entfliehen und etwas zu unternehmen, was seiner Person und seinem Streben näher lag – einschließlich des Versuchs, als freier Erfinder tätig zu werden. Einer seiner Scherzartikel, den er Géographie amusante » Terra « nannte, wurde sogar patentiert. Doch auch Paris war von der Depression betroffen – wenn auch weniger schrecklich als Polen und die USA –, und er war gezwungen, realistisch zu handeln, und wurde Juniorpartner einer winzigen Manufaktur für billige Kinderkleidung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg fand er eine Stelle als Buchhalter bei der US-Armee. Mutter meinte, er solle auf Sicherheit setzen, die Selbstständigkeit aufgeben und einen ruhigen bezahlten Posten annehmen – wenigstens »so lange, bis unsere Situation sich gefestigt hat«. Mit zunehmendem Alter wurde das zu einem ihrer Lieblingssätze – obwohl ich nie müde wurde, sie daran zu erinnern, dass ihre »Situation« seit 1914 stets unsicher gewesen war.
Stattdessen gründete Vater ein weiteres Geschäft, eine Leistung, die durch die Umstände noch erschwert wurde. Es gelang ihm – fast im Alleingang und mit sehr beschränkten Mitteln – in einem weit vom Distrikt der Bekleidungsbranche entfernten Mietshaus. Er bestellte die Stoffe bei altmodischen kleinen Herstellern in weit entfernten Weberstädtchen und schnitt sie (manchmal mit meiner Hilfe) anschließend zu. Seine Gewinnspanne sank, wenn zu viel Stoff in Fetzen zu Boden fiel, und modischer Zuschnitt zählte wenig. Die eigentliche Schneiderarbeit wurde »ausgelagert« und von Hausfrauen und Haushüterinnen in irgendeiner der äußeren Vorstädte ausgeführt. Der Sohn einer der Näherinnen war Lastwagenfahrer; in Schwarzarbeit erledigte er die Transporte als Vaters Spediteur.
Dann wurde Vater sein eigener Handelsvertreter. Er reiste allein in kleine Städte und verkaufte seine Waren direkt an Kleinhändler, die als Familienbetrieb von einem ländlichen Markt oder Jahrmarkt zum nächsten zogen – Leute, die einer völlig anderen Kultur angehörten. Er hatte diese Händler einst besucht und erinnerte sie nach dem Krieg daran, dass er verfügbar, pünktlich und nicht teuer sei. Praktisch alle seine Kunden und Lieferanten kehrten zurück.
Vaters Wagemut zahlte sich aus. Sein Geschäft lief so gut, dass er in die Nähe des eigentlichen Viertels der Kleidermacher umziehen konnte; dazu kaufte er eine Wohnwerkstatt im dahinsiechenden Hutmacherdistrikt (die Gegend ist derzeit bei Kurden aus der Türkei sehr beliebt!) Als Vater im Endstadium seiner Krankheit war, hatte der wachsende allgemeine Wohlstand seine Nischentätigkeit überflüssig gemacht. Als Mutter nicht aufpasste, verkaufte ich die verbliebenen Rollen mit Wollstoffen geringer Qualität und Packen mit unmodischer Kleidung für wenig Geld und griff dann zu einer frommen Lüge – ich rühmte mich, einen Riesengewinn gemacht zu haben. Es war eine Lektion in Realwirtschaft im Hinblick darauf, wie flüchtig und schwankend Vorstellungen vom Geldwert sein können.
Mutter
Zum Zeitpunkt der Aufnahme von 1930 floh meine engere Familie vor der drückenden Hitze Warschaus in die Sommerfrische nach Świder, einem Badeort an der Weichsel. Meist war Vater geschäftlich in der Stadt, doch Mutter (1885–1973) blieb bei den Kindern, weshalb sie ihren rechtmäßigen Platz bei dieser folgenreichen Abendgesellschaft nicht einnehmen konnte.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Hier ist sie in drei Lebensabschnitten zu sehen, einmal als junge Frau auf einem etwa 1935 im Studio aufgenommenen
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