Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Generation zu einem scharfen Bruch gekommen war. Großvater und andere ältere Verwandte gehörten zu einem Ghetto, in dem Religion eine zentrale Rolle spielte. Ihre Kinder hingegen lebten in einer völlig anderen Welt, in der Religion viel weniger bedeutete. Wir kamen uns nie reich vor, aber Großvaters Haushalt war komfortabel und hatte manchmal einen oder sogar zwei bäuerliche Dienstboten.
Wie kam er zurecht, ehe seine vielen Kinder ihn versorgen konnten? Das habe ich mich immer verwundert gefragt. Angeblich durch den Einkauf von Hefe in großem Stil, die er dann in Einzelportionen an normale Kunden weiterverkaufte. Als Kind erledigte Szolem, sein jüngerer Sohn, die Auslieferungen. Doch da gab es noch mehr. Die jüdische Gemeinschaft bemühte sich, ihre gelehrten Männer zu unterstützen. Großvater war ein geachteter und beliebter Ratgeber. Die wohlhabenderen unter den Männern, die bei ihm beteten, sahen geschäftliche Abschlüsse als einen guten Vorwand, ihm das Leben angenehm zu machen und ihm zu ermöglichen, Hof zu halten – aber auch, um selbst weiterhin an seinen geschätzten Ratschlägen teilhaben zu können.
Hinter Großvaters Stuhl lehnt mein Cousin Leon (ca. 1900–1970), damals Redakteur bei der wichtigsten polnischsprachigen jüdischen Tageszeitung. Er hielt uns über alles, was sich ereignete, auf dem Laufenden. Dem Krieg in Polen entging er dadurch, dass er nach Ostsibirien deportiert wurde, bevor er sich später wieder in Richtung Westen aufmachte. Seine Frau Maria Bar war eine führende Pianistin. Ich habe Plakate von ihren Konzerten gesehen, sie jedoch nie spielen gehört. Leons Bruder Zygmunt lehrte an einem Gymnasium und war ein bekannter Dichter.
Der Mann, der als Zweiter von links gedankenvoll in die Kamera blickt, ist mein Vater (1883–1952), zweiter der vier Söhne Szlomos und damals 47 Jahre alt. Der zutiefst prinzipientreue und stolze, unabhängige Mann ist eine der zentralen Persönlichkeiten meines Lebens. Zwei ältere Geschwister hatten jung geheiratet und sich fern von Warschau den Familien ihrer Ehegatten angeschlossen – Vater dagegen nicht. Seine Selbstlosigkeit und Fürsorge als Sohn, Bruder, Ehemann und Vater hielt er bis zu einem sehr späten Zeitpunkt seines Lebens aufrecht. Viel später beklagte er sich bei mir, er habe – außerhalb seiner Familie – nichts getan, was ihm Freude bereitet habe, während sein jüngster Bruder Szolem nie etwas anderes getan habe.
Szolem ist der junge Mann ganz links, damals 31 Jahre alt. Großmutter war zur Zeit ihrer sechzehnten Schwangerschaft bereits 50 gewesen, erholte sich nie mehr richtig und starb vor dem Ersten Weltkrieg. Intellektuell und auch finanziell wurde ihr letztes Kind größtenteils von meinem Vater großgezogen.
Bei dem schicksalsträchtigen Abendessen war Szolem sowohl Gastgeber als auch Ehrengast und wahrscheinlich auch Dolmetscher. Als Kind hatte er in derselben Wohnung gelebt und war der Erste in Vaters Familie, der statt einer höheren Religions- oder Handelsschule eine akademische Oberschule besuchte und nicht an einer medizinischen Hochschule studierte. Er zog nach Paris, wurde rasch und umfassend akzeptiert und besuchte nun im Triumph seinen Geburtsort. Er war einer der vier französischen Professoren, die auf dem Weg waren, Frankreich bei einer großen, im Juni 1930 stattfindenden Veranstaltung in Charkow in der östlichen Ukraine offiziell zu vertreten – nämlich beim Ersten Mathematischen Kongress der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Kein anderer hat mein wissenschaftliches Leben auch nur annähernd so sehr beeinflusst wie dieser Onkel.
Auf dem Ehrenplatz zur Rechten von Großvater sitzt der älteste und ranghöchste Gast, Jacques Hadamard (1865–1963). Soweit ich mich erinnere, hatte man ihn mir als überragenden Mann der Wissenschaft geschildert, als den damals vielleicht größten Mathematiker Frankreichs – viele glauben, er habe sehr viel mehr Anerkennung verdient, als ihm heute zuteilwird. Auf verschiedene Arten hat auch er, wie sich herausstellen sollte, in speziellen Bereichen Einfluss auf mein Leben gehabt. Ich sehe in ihm meinen geistigen Großvater.
Links von Großvater sitzt der Mathematiker Paul Montel (1876–1975), der nur zwei Jahre zuvor Szolems Doktorarbeit betreut hatte. Mit Montel hatte ich gelegentlich zu tun – zu einer Zeit, in der er eher ins Abseits geraten war. Szolem pries die Arbeiten zweier unmittelbar von Montel inspirierter Mathematiker, Gaston Julia
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