Schönesding!
gegeben.
„Und, Vitalij, was ist dann passiert?“ Das ist unsere Gruppenleiterin Frau Sommer. Sie ist es, die uns mit ihren Fragen quält. Was ist dann wohl passiert? Was wohl!
Diesen Teil erzählt Vitalij fast erleichtert. Er richtet sich wieder auf. Er kann sich nämlich daran nicht erinnern. Zumindest sagt er das. Aber seine Schwägerin im Nebenzimmer, die ihre japsende, um ihr Leben kämpfende Schwester bald gehört hat, kann. Sie hat es vor Gericht ausgesagt. Daher weiß es auch Vitalij.
Das ist passiert: Der andere Mann ist aus dem Fenster gesprungen. Zweiter Stock. Sein Fuß gab nach. Trotz eines gebrochenes Fußgelenks rannte er davon wie ein aufgescheuchter Feldhase. Vitalij hat einen Gürtel aus dem Schrank gezerrt, ihn seiner Frau um den Hals geworfen, ihr tief in die Augen geschaut und zugedreht, bis sie blau wurde. Bis sie blau wurde. Das ist dann passiert, Frau Gruppenleiterin.
„ Und tut es Ihnen leid?“ Tut ihm das leid? Tut es ihm leid! Was ist denn das für eine Scheiß-Frage! Kann man das nicht sehen, dass er seitdem nur noch daran denkt, Tag und Nacht, dass er nicht mehr derselbe ist, nie mehr derselbe werden wird. Tut es ihm leid, Frau Gruppenleiterin!
Jeder hat so seine Strategien, wie er mit den zweiwöchentlichen Gesprächsrunden umgeht. Und mit den bohrenden Fragen von Frau Sommer. So heißt unsere Gruppenleiterin.
Wie Vitalij spielen manche ihre Taten fast lustvoll durch wie ein kleines Theaterstück. Sie haben so viel Übung, ihre Verbrechen schon so oft Psychologen, Sozialtherapeuten und Sozialarbeitern erzählt, dass sie genau wissen, was gut ankommt. Sie folgen einer lange verfeinerten Dramaturgie, an deren Höhepunkt immer die öffentliche Erniedrigung steht, die offizielle Abbitte, die ihnen nie befriedigend erscheinende Reue. Das musst du betonen. Das gibt Pluspunkte.
Andere wie Kalle wollen nicht darüber sprechen. Sie machen sich über die Runden lustig oder drucksen herum. Sprechen ein bisschen über ihr früheres Leben, und was sie tun wollen, wenn sie rauskommen.
Kalle ist ein massiger Mann mit blauen Tätowierungen auf den Unterarmen. Er hat ein paar Brüche gemacht und schließlich eine Bank überfallen. Hätte mal bei seinen Brüchen bleiben sollen, meint er. Hätte sich nicht von seinem Kumpel verleiten lassen sollen, dann wäre er jetzt nicht hier, sagt er. Wenn Frau Sommer nicht dabei ist. Was soll er auch sagen? Dass ihm die Bank leid tut?
Aber die Angestellten, sagt Frau Sommer. Hat er bedacht, dass die Angst hatten. Vielleicht hatten sie sogar Alpträume nach dem Überfall, wachten schweißgebadet auf. Hat er das bedacht?
Kalle bläst Luft durch die Zähne. Wenn man das so nimmt...
Das Rumdrucksen von Kalle ist fast genau so schlimm wie das Theater von Vitalij. Weil das Haftziel gefährdet ist. Weil wir uns nicht resozialisieren lassen. Weil unsere Gruppenleiterin dann sauer wird. Weil wir alle das später ausbaden müssen. Weil sie uns dann fragt, ob es uns leid tut.
Wir haben unsere Kindheitserinnerungen aufgeschrieben und den Schwerpunkt darauf gelegt, woran es gelegen haben kann, als es anfing schief zu laufen. Natürlich haben wir schon einen Brief an die Opfer unserer Verbrechen geschrieben. Wir haben uns bei ihnen entschuldigt. Um Vergebung gebeten. Ein paar Mal. Damit wir bessere Menschen werden können. Wir sollen uns ja in sie hineinversetzen. Denn das ist ja unser Problem: Mangelnde Empathie. So nennen sie das. Anscheinend wussten wir nicht, was wir anderen antaten, angetan hatten. Was sie empfanden, wie sie litten, wenn wir taten, was wir taten, getan hatten.
So geht das Monat ein und Monat aus. Und nimmt kein Ende. So war das nicht geplant. So schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt, ehrlich gesagt. Ich dachte, du hast ne Menge Zeit, die lassen dich schmoren in deinem Saft, aber du hast zumindest deine Ruhe.
Schön wär's. Nur seitdem waren die Sechziger und vor allem die Siebziger. Und die dazu gehörende Strafrechtsreform. Inzwischen geht der Gesetzgeber davon aus, dass „ein gereifter und gesund entwickelter Mensch“ keine Straftaten begeht. So steht es zumindest in einer Informationsbroschüre, die sie uns gleich am ersten Tag gegeben haben.
Wirklich? Ich könnte Ihnen hunderte Gründe nennen es trotzdem zu tun. Alle wollen die Welt besser machen, aber niemand interessanter. Ist doch merkwürdig, wie Felder immer sagte.
Auch wir sind also nur Opfer der Umstände: Armut, zerrüttete Familien, Missbrauch, lieblose Kindheit,
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