Schönesding!
fallen wirst, dass du nun nicht mehr bremsen kannst, dass es nun keinen Weg auf der Welt mehr gibt, den du nehmen kannst, und es jetzt an der Zeit ist dich einfach hinzugeben und die Arme auszufahren, um den Sturz so wenig schmerzhaft zu machen wie möglich, wusste ich in diesem Moment völliger Klarheit: Der Boden ruft. Das war es jetzt. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen von hoher Qualität. Die Sendungen informativ, das Programm für jung und alt. Das würde Felder nicht unkommentiert lassen.
Vorwürfe machte ich mir aber keine. Ich hatte getan, was ich konnte, um die zwei aufeinander zurasenden Züge umzulenken. Mit etwas Glück hätte es mir gelingen können sie auf parallele Gleise zu leiten, wo sie nebeneinander herfahren konnten. Mit ein paar sensationellen Tricks vielleicht und unter höchster Gefahr ganz sicher, so ein Bein auf dem einen Zug und das zweite auf dem anderen, so etwas. Aber nun blieb mir nur noch dem spektakulären Zusammenstoß zuzuschauen. Und da wollte ich natürlich kein Detail verpassen.
Bestimmt hat es nicht zwangsläufig soweit kommen müssen. Zumindest habe ich das am Anfang gedacht. Es hätte ein guter Abend werden können. Mit ein bisschen Wein und ein bisschen was zu essen. Helmut hatte mich eingeladen, und Helmut sagte, bring doch jemanden mit. Da dachte ich sofort an Felder. Beide redeten gern und viel und beide mochten Filme. Wie die meisten anderen Gäste kannte ich Helmut aus meinem Film-Seminar an der Uni. Außerdem kamen auch noch seine Schwester Anna und ihr Mann Karl-Heinz.
Wenn ich heute zurückblicke, hätte ich natürlich wissen müssen, dass es gar nicht gut gehen konnte. Ich kannte Felder. Und ich kannte Helmut und meine Kommilitonen. Für sich genommen waren beide ungefährlich. Aber wenn man zwei neutrale Substanzen zusammenbringt, heißt das ja noch lange nicht, dass daraus keine explosive Mischung entsteht.
Vielleicht war es sogar so, dass ich unterbewusst diesen Zusammenstoß wollte, ja, dass ich ihn absichtlich herbeigeführt habe. Weil ich sehen wollte, wer mehr Schwung hat und mehr Masse.
Was mich misstrauisch macht, ist, dass es mir so viel Spaß gemacht hat zuzuschauen, als es schließlich krachte. Deshalb bin ich nicht ganz sicher. Und außerdem, das ist ja auch klar, als der Zusammenstoß passierte, saß ich in der ersten Reihe.
Helmuts Fehler war es auf jeden Fall nicht. Er war ganz in Ordnung. Er bespielte – dieses Wort, dieses Wort! - und, wenn nötig, bespaßte - dieses Wort, dieses Wort! - unser Seminar mit der üblichen Mischung aus spielerisch-ironischer Intellektualität und lange eingeübter Kumpelhaftigkeit.
Genau genommen war Helmut aber gar nicht unser Dozent. Er war Student wie wir anderen auch. Er war einfach nur schon länger dabei und war nur unser Tutor. Ihm zur Seite stand Doreen, ebenfalls eine Studentin, auch sie war schon in einem höheren Semester als wir.
Helmut trug ausschließlich schwarz. Seine pechschwarz gefärbten Haare sammelte er zu einem kurzen Zopf hinter dem Kopf. Dort allerdings kultivierte er auch einen Nackenpony von Haaren, die nicht lang genug waren für den Zopf, oder, was ich eher vermutete, den er ganz absichtlich dort duldete.
Vorne hatte er einen Wichtelbart, so einen, der nur unten ums Kinn und die Backen geht, und dazu trug er ein schwarzes Hemd, schwarze Jeans, und schwarze Doc Martins. Sogar die Ösen in seinen Ohren waren schwarz beschlagen. Allein an der Hose trug er eine silberne Kette zum Portemonnaie, erfunden und hoffähig gemacht vom Fahrgeschäft-Auf-und-Abbauer, jener fast mythischen Gestalt meiner Kindheit, die frei und ungebunden mit dem Rummel durch die Lande zog.
Doreen teilte seine Schwäche für Schwarz. Doch schien ihr Stil mehr ein Spiel mit Versatzstücken von S&M und jüngeren Vampir-Filmen. Ihr Haar färbte sie grell fuchsrot. Meistens trug sie enge schwarze Hosen und einfarbige, knallige Blusen. Von Natur aus war ihre Haut unheimlich blass und um das noch zu betonen, schminkte sie ihre Lippen blutrot und trug eng anliegende Kettchen um den nackten Hals.
Dann waren da noch der Existenzialist – auch ihn habe ich so getauft wegen seiner Klamotten - und Friedrich mit den hohen Haaren.
Der Existenzialist trug stets abgewetzte Cord-Sakkos, wenn nicht in Schwarz, dann in dunklem Braun. Dazu: dunkle Schuhe, dunkle Hose, dunkler Plüsch- oder Ripp-Nicki und – Sie habens geahnt – schuhcreme-schwarze, kurze Haare.
Entgegen seiner freudlosen Klamotten war der Existenzialist
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