Schönesding!
noch was gespürt. Was sich angefühlt hat wie Leben, verstehst du? Was, ist eigentlich nicht so wichtig.“
War es das, was wir gerade gemacht hatten? Waren wir nur dort, um unsere Tagtraum-Arsenale aufzufüllen? War es das?
„Du fragst dich sicher, ob das der klügste Ort war dafür?“
Oh ja, Felder, das fragte ich mich.
„Siehst du“, sagte Felder, „der menschliche Kopf verarbeitet so richtig eigentlich nur Kontraste. Er braucht ab und zu was, eine Messlatte, wenn du so willst, wonach er Sachen bewerten kann. Also gib sie ihm.“
Das war mir ein bisschen viel. Es war schon spät am Abend, mir drehte sich noch der Kopf von La Paloma-Ohé, aber in der momentanen Euphorie habe ich Felder nicht widersprochen.
Danach aber dachte ich schon: Diese Paare, die trauen sich was. Die trauen sich wirklich was. Verkaufen den Leuten teure Eintrittskarten und zeigen ihnen dann den Strick, an dem sie ihr ganzes Leben gehangen haben.
Mein Gott, das war wirklich ein langer Tag. Das war ein verdammt langer Tag.
* 17 *
Lange Hölle Tegel: Vitalij quält sich wieder einmal durch die Nacht, in der er seine Frau erdrosselt hat. Die Geschichte habe ich schon so oft gehört. Klar, wir werden dazu angehalten diese Dinge in unseren Therapierunden immer wieder durchzuspielen, aber muss er es jedes Mal hier tun, wenn alle dabei sind. Immer wieder derselbe Verrat, immer wieder dieselbe Reaktion, immer dasselbe Ende.
Vitalij ist schon siebenundfünfzig und hat das alles nie verwunden. Und er wird es nie verwinden. Das ist für jeden zu sehen. Wozu also dieses Theater?
Wenn wir anderen arbeiten, schleicht Vitalij über unseren Flur wie ein einst stolzer Löwe in einem zu engen Käfig. Diese Wanderungen vom Glaskasten des Diensthabenden bis zur verstärkten Stahltür ins Treppenhaus und wieder zurück haben etwas Instinktives, etwas Urmächtiges. Er denkt darüber nicht nach. Etwas treibt ihn an.
Immer in demselben weinroten Trainingsanzug, immer an der Wand lang, immer die Hände fest auf dem Rücken verschränkt. Er gleitet fast lautlos durch den Flur, die Augen fest vor sich auf den Boden geheftet. In den Ecken, wo der Gang vor der massiven Stahltür endet und Vitalij zweimal auf seinem Absatz nach links kehren muss, ist von den vielen tausend Schritten, die er jeden Tag abarbeitet, sogar schon das Linoleum etwas abgetreten.
Sprichst du Vitalij auf seinen Wanderungen an, erschrickt er und starrt dich an, bis er wieder weiß, wo er eigentlich ist. „Ist in Ordnung!“ oder „Wird gemacht!“, brummelt er dann und grinst, um dich milde zu stimmen. Dann trottet er weiter.
Vitalij hat keine Sprecher. Niemand besucht ihn. Er bekommt keine Post, keine Pakete. Von wem auch? Er hatte ja nur seine Frau. Und die ist tot.
Jetzt sind wir wieder einmal an der Stelle, an der Vitalij nach Hause kommt und seine Frau mit einem anderen Mann im Schlafzimmer findet. Seine Frau, mit der er mehr als fünfundzwanzig Jahre verheiratet war. Das muss man sich mal vorstellen. Mit der er durch dick und dünn gegangen ist. Mit der er nach Deutschland kam, weil sie das wollte. Nur sie das wollte. Er hätte gut und gerne in Krasnojarsk bleiben können. Er hatte ein gutes Auskommen, sein Stück Leben, führte ein kleines Café in der Stadt, nichts Besonderes, aber es bezahlte die Rechnungen. Und dann das!
Vitalij blickt auf und lässt seinen Blick in der Runde wandern. Nach mehr als fünfundzwanzig Jahren. Wegen ein bisschen Sex. Der Verrat! Sein Gesicht, seine Augen, sein Mund spitzen sich zu einem Keil, der dich, der jeden gleich angreifen kann.
Dann lässt er wieder seine Schultern sinken und wird schlaff wie ein alter Luftballon.
Jedes Mal, wenn er die Geschichte erzählt, scheint er aufs Neue ausgeliefert, besiegt, verwüstet, am Boden zertrampelt wie eine Ameise unter bösen Kinderfüßen. Nicht der Mord ist die Tragödie. Die Treulosigkeit seiner Frau ist es, die er nicht überwinden kann.
Allen sind diese Momente der Selbstkasteiung fürchterlich unangenehm. Aus Furcht, Vitalijs Blick könnte den unseren treffen, studieren wir unsere Fingernägel, die Flecken auf unseren Hosen, irgendwas.
Aber Vitalij ist noch nicht durch. Wegen ein bisschen Sex mit einem jüngeren Mann! Nach mehr als zwanzig Jahren... Wie oft will er das noch sagen? Und was sollten wir Vitalij darauf antworten? Dass er seine Frau vernachlässigt hat? Möglicherweise? Dass die Frauen halt so sind?
Gab es eine Antwort, die Vitalij geholfen hätte? Wir hätten sie
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