Schönesding!
schmale Peetzer Wilfried zupfte auf seiner Fender Stratocaster – ohne Kabel oder Verstärker – so herzerweichend, dass es einem ganz anders wurde, und die Fleischlüge bewegte ihren Mund so bräsig zum Band, dass man mithelfen wollte.
Hier muss mal angemerkt werden: Seit wann gilt es eigentlich als Unterhaltung, wenn jemand zum Band mit einem Mikrofon in der Hand über die Bühne schaukelt. Ich hab da so einen Verdacht, aber sachdienliche Hinweise werden auf jeden Fall angenommen. Denn das muss aufhören. Muss es wirklich. Sonst kann es immer wieder zu solchen Zwischenfällen kommen.
Wenn die Fleischlüge dran war, hatte ich nämlich nur einen Gedanken im Kopf: Oh Mann, wenn jetzt das Licht angeht, dann ist es aus. Dann muss ich jemanden umbringen. Mich selbst oder andere. Egal. Irgendjemanden. Das musste sein.
Es gab bisher nur einen Moment in meinem Leben, an dem ich mich so unwohl gefühlt habe. Das war in einem Altersheim irgendwo in Sachsen-Anhalt. Ich weiß nicht mehr, was ich dort zu suchen hatte. Ich weiß es wirklich nicht. Glauben Sie mir. Auf jeden Fall saßen da gerade die Pensionäre im Speisesaal bei Kaffee und Kuchen und ein richtig lautes Band mit Vogelstimmen lief dazu. Ich dachte, ich bin in einem Scheiß-Wald, oder was, oder in einem Dschungel! Ich taumelte umher wie ein angeschossener Tiger. Die Gesellen jedoch waren es zufrieden. Sie hatten ihren Speisesaal in ein kleines Vogelparadies verlegt. Die waren gar nicht mehr hier. Die waren woanders. Ich aber nicht, und das war schlimm.
Felder, das war nicht in Ordnung. Wirklich nicht. Das war wirklich nicht in Ordnung.
Irgendwann dachte ich, Mann, die sind doch auf irgendwas, die Paare jetzt. Vielleicht gibt es hier Schnaps umsonst, und wir haben das nur nicht mitgekriegt. Weil: Das weiß man ja, im Haus des Henkers spricht man nicht vom Strick. Aber genau das, genau das, mein Freund, das taten die doch, oder?
Sie gaben Udo Jürgens' Ich war noch niemals in New York : „Und nach dem Abendessen sagte er / lass mich noch eben Zigaretten holen gehen / er zog die Tür zu, ging stumm hinaus / ins neon-helle Treppenhaus / es roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit / und auf der Treppe dachte er, wie wenn das jetzt ein Aufbruch wär.“
Schon vorher hatten sie uns aufgefordert, uns bei unseren Nachbarn einzuklinken und zu schunkeln. Der Mascara-Friedhof hatte kaum zu Ende gesprochen, schon hatte Felder den Silberfuchs neben sich gepackt und stampf-rhythmisch herumgebeutelt. Dabei strahlte er, wie ich ihn selten habe strahlen sehen.
„Ich war noch niemals in New York / ich war noch niemals richtig frei / einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehn.“
Wir wirbelten, wir wirbelten.
„Dann steckte er die Zigaretten ein und ging wie selbstverständlich heim, durchs Treppenhaus mit Bohnerwachs und Spießigkeit / Die Frau rief 'Mann, wo bleibst du bloß, Dalli-Dalli, geht gleich los' / sie fragte 'War was?' - 'Nein, was soll schon sein.'“
War da was? Nee, da war nix. Was sollte schon gewesen sein?
Zur Pause konnte ich Felder endlich überzeugen unser Heil in der weiten und fernen Ferne zu suchen. Von Hubsi war auch nichts Gegenteiliges zu vernehmen. Also gingen wir.
Als wir draußen waren, sagte ich zu Felder: „Was war das denn! Was machst du da mit uns. Ich habe mich noch nie so unwohl gefühlt. Mann, das war echt nicht in Ordnung! Echt nicht.“
Felder zögerte nicht. So als habe er genau das schon erwartet, sagte er: „Du hast völlig recht. Aber überleg mal: Wie fühlst du dich jetzt?“
Ich fühlte mich frei und leicht, jung und schön, richtig euphorisch eigentlich. Ich war gerade der Welt größtem Mascara-Magnaten und seiner Bande von Schlager-Schergen von der Schippe gesprungen. Da ging es mir natürlich gold. Das war ja kein Wunder.
„Siehst du!“, sagte Felder. „Es ist doch so. Das menschliche Gehirn verweilt die meiste Zeit in einem Dämmerzustand. Sagen Untersuchungen. Nur wenn du etwas konzentriert tust, eine Telefonnummer nachschaust oder Fische zählst meinetwegen, werden andere Regionen im Gehirn aktiv. Diese Dämmerzustände sind im Grunde Tagträume und sie sind der Normalfall. Dein Kopf spielt dann durch, wie es damals so war oder wie es bald werden sollte. Deshalb gilt es Material für diese Dämmerzustände zu sammeln. Dabei ist es eigentlich völlig egal, ob mit guten oder schlechten Erfahrungen, denn du dämmerst ja ohnehin nur vor dich hin, Hauptsache, da ist etwas, Hauptsache, du hast überhaupt
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