Schoenhauser Allee
sie am weitesten ausgestrahlt wird. Auf diese Weise können sie unser Treiben auf der Erde unauffällig verfolgen.
Ich selbst habe die Gewohnheit, kurzen Wellen zu lauschen, von meinem Vater geerbt. Damals in der Sowjetunion waren die ausländischen Radiosender wie
BBC
oder
Voice of America
, die einzigen Informationsquellen, denen man glauben mochte. Sie brachten ihre Nachrichten immer nach Mitternacht und jeden Tag auf einer anderen Frequenz, wurden aber trotzdem ständig von den sowjetischen Radioabwehrdiensten gejagt und mit speziellen Schallgeräten gedämpft. Doch die ersten zehn Minuten schafften sie fast immer. Mein Vater, der gemäß seiner eigenen Tagesordnung schon um acht ins Bett ging, stellte seinen Wecker auf Mitternacht. Wenn es klingelte, stand er auf und schaltete die
Heimat
an, einen alten Plattenspieler, der auch gleichzeitig ein Rundfunkempfänger war und fast so groß wie ich damals. Ich lag auf dem Klappbett im Nebenzimmer und konnte durch die dünne Pappwand die Geräusche des Weltalls mithören. Mein Vater drehte das Rad auf der Skala hin und her, bis irgendwann eine ungewöhnlich ernste Stimme aus dem Lautsprecher kam: »Achtung! Achtung! Sie hören
The Voice of America
, die offizielle Meinung der Regierung der Vereinigten Staaten...«
Mein Vater drückte sein Ohr an den Lautsprecher und lauschte den Nachrichten aus der freien Welt. Nach ungefähr zehn Minuten war der Spaß zu Ende. Der Sender wurde gefunden und eliminiert. Nur noch das entsetzliche Geheul des Störsenders war zu hören. Mein Vater schaltete die Kiste aus, ging zurück ins Bett und träumte schlecht. Dafür konnte er am nächsten Tag in seinem Betrieb in der Rauchpause auf der Toilette wunderbar mitreden, er wusste nämlich, was in der Welt wirklich los war.
Zwanzig Jahre später übernahm ich den Staffelstab von meinem Vater. Nun sitze ich nachts in der Küche an einem viel kleineren Gerät namens
Yachtboy 217
, dem ultimativen Weltempfänger der Firma Grundig. Meine Kinder sind längst im Bett, meine Frau sitzt neben mir mit einem Kriminalroman in der Hand, und ich lausche den Nachrichten aus der fernen Welt. Die offizielle Meinung der amerikanischen Regierung interessiert mich nicht so sehr wie früher, sie ist auch langweiliger geworden, seit es die Sowjetunion nicht mehr gibt. Ich höre gerne die
Deutsche Welle
aus Köln in russischer Sprache.
Die Nachrichten werden dort so oft von einer Sprache in die andere übersetzt, bis sie ihren ursprünglichen Sinn verlieren und zu einem regelrechten Rätsel werden. Dann versuchen wir in der Familie diese Rätsel zu knacken.
Wenn man dem Sender Glauben schenken darf, dann ist unsere Welt nicht mehr zu retten. Neulich zum Beispiel behauptete die Deutsche Welle aus Köln in ihrem aktuellen Nachrichtenprogramm, eine Gruppe von Blinden hätte ein Schiff im Indischen Ozean in ihre Gewalt gebracht. Die Blinden hätten sich als ganz normale Passagiere auf dem Schiff einquartiert, dann aber plötzlich den Kapitän und die Matrosen als Geiseln genommen. Noch hätten sie jedoch keine Forderungen gestellt, die Lage sei kompliziert, erzählte der Nachrichtensprecher. Mir standen die Haare zu Berge. Die armen Menschen! Wenn sie wirklich ganz blind waren, würde ihr Schiff nie ein Ufer erreichen.
»Aber irgendwie ist das doch absoluter Schwachsinn!«, meinte meine Frau. »Wozu sollen denn Blinde überhaupt ein Schiff besetzen? Und noch dazu im Indischen Ozean!«
Ich überlegte kurz und knackte das Rätsel. Die Nachricht war falsch ins Russische übersetzt worden. Ursprünglich hatte es bestimmt geheißen: »Blinde Passagiere haben ein Schiff in ihrer Gewalt«– und der Praktikant der
Deutschen Welle
, der für die Übersetzung zuständig war, kannte diesen Begriff nicht. Er dachte wohl, die Passagiere wären wirklich blind! So musste es gewesen sein. Müde, aber zufrieden gingen meine Frau und ich ins Bett. Nirgendwo gibt es solche spannenden Nachrichten wie auf der kurzen Welle aus Köln.
Das Leben als Verlust
Draußen dämmerte es. Die meisten Bewohner des Hauses wissen jedoch, dass sie heute kaum schlafen werden und mit fernsehen wird es auch nichts. Unten in der Galerie ist heute eine große Party angesagt: die Ausstellungseröffnung der Künstlergruppe »Renata« aus Italien. »Das Leben als Verlust«, heißt die Ausstellung. Meine Frau und ich sind zur Vernissage eingeladen und ziehen uns schick an. Das Programm verspricht eine Symbiose aller Künste: Junge Literaten werden
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