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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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ganz andere Show vor unserem Balkon: Eine Bauarbeiterbrigade geht pünktlich alle zwanzig Minuten die Gleise entlang an unserem Haus vorbei. Die vier Männer bewegen sich im gleichen Rhythmus in Richtung Ruhleben: Ein großer Dünner schiebt eine Draisine vor sich her, ein Dicker trägt einen riesigen Hammer auf den Schultern, ein Kleiner mit Mütze hat ein Brecheisen in der Hand und ein Blonder mit einer Büchse Bier beschließt den Zug. Exakt zwanzig Minuten später kann man das Quartett wieder von unserem Balkon aus betrachten. Diesmal geht es in Richtung Vinetastraße: Vorne ist nun der Blonde mit dem Bier, dann kommt der Kerl mit dem Brecheisen und der Alte mit dem Hammer und schließlich der große Dünne, der seine Draisine hinter sich herzieht.
    »Die haben sich bestimmt verlaufen«, mutmaßten wir anfänglich, doch nach drei Tagen nicht mehr. Der Bauarbeiterzug wurde zu einer neuen Sehenswürdigkeit unseres Hauses. Früher hatten wir jedes Mal, wenn Besuch kam, den Gästen stolz die vor unserer Nase fahrende U-Bahn gezeigt. Sie waren immer begeistert gewesen. Jetzt zeigen wir ihnen die Bauarbeiterbrigade. »Gleich kommen sie wieder, in zwölf Minuten!«, erklärt meine Frau aufgeregt den Verlauf der Attraktion. Wir überlegten schon, ob wir nicht Futter auslegen sollten, aber dann kam der Tag, als die Brigade nicht mehr auftauchte. Irgendwo auf der Strecke nach Ruhleben war sie für immer stecken geblieben. Wir vermissen sie sehr. Nun bewegt sich gar nichts mehr auf den Gleisen vor unserem Haus, außer ein paar dicken BVG-Tauben.
    »Eigentlich solltet ihr euch freuen, ein paar Monate ohne Krach zu leben. Genießt die Ruhe!«, riet meine Mutter. Sie weiß nicht, dass die U-Bahn das leiseste Transportmittel ist und viel weniger Krach macht als beispielsweise die Straßenbahn oder der Autoverkehr. Ganz zu schweigen von unserem Nachbarn, der Musiker ist. Er bereitet sich nämlich auf eine große musikalische Karriere vor und übt jeden Tag zusammen mit seiner Familie. So fleißig wie sie sind, werden ihnen bestimmt bald die ersten drei Plätze auf der Hitparade gehören. Außerdem besteht die Familie aus echten Multitalenten, sie können alle mehrere Instrumente spielen. Seit über einem Jahr hören wir nun schon ihre Musik und konnten dabei verfolgen, wie sich die musikalischen Interessen wandelten – vom Schlagzeug zur Gitarre, von der Klarinette zum Saxofon und so fort. Sie experimentieren wahrscheinlich auch mit den verschiedenen Musikstilen, aber bei uns unten landen diese Klänge leider immer in ein und derselben Form: Es ist eine Art gepupster Punkrock.
    Oft kommen Kollegen zu unserer Schönhauser Kelly-Familie, und man tauscht Musikerfahrungen aus. Dann gibt es eine Jam-Session. Gestern hing ein Zettel im Hausflur:
Hallo Nachbarn! Heute haben meine Frau und mein Sohn Geburtstag. Ein paar Jungs kommen, um ihnen zu gratulieren. Also, wenn es etwas lauter wird als sonst, nicht gleich die Polizei rufen, einfach bei uns Bescheid sagen. Ihr Luchiano.
    Die Bedenken von Luchiano waren nicht ohne Grund. Beim letzten »Geburtstag«, der ein paar Tage zuvor stattgefunden hatte, hatten ein paar Polizisten seine Wohnung besucht, nachdem sie von einem Mieter gerufen worden waren. Die Szene hatten wir zwar nicht selbst beobachten können, aber allein vom Hören war sie schon beeindruckend gewesen: »Hier spricht die Polizei, machen Sie die Tür auf«– zuerst dachte ich, die Nachbarn hätten mit der Musik Schluss gemacht und kucken sich stattdessen einen »Tatort« an. Gleich danach kam es aber zu einer regelrechten Musikeraustreibung. Die Polizisten trampelten in einer Kolonne durch das ganze Haus, dreimal hoch und runter. Dieses Geräusch kann kein Fernseher der Welt nachmachen. Um fünf Uhr morgens herrschte in unserem kleinen Mietshaus jedoch wie immer absolute Stille.

Die Vertreibung aus dem Paradies
    Mein Freund Juri und ich saßen an einer Bar in den »Schönhauser Arcaden« und beobachteten, wie die Leute um uns herum
Warsteiner
in sich rein kippten; eins nach dem anderen. Es war nicht viel los, obwohl der Sommerschlussverkauf die »Arcaden« verschönt hatte.
    »Der kleine Jonas möchte aus dem ‘Kinderparadies’ abgeholt werden«, flötete eine weibliche Stimme aus der Lautsprecheranlage. Wir schwiegen. Nach zwanzig Minuten kam die Ansage noch einmal: »Der kleine Jonas möchte immer noch aus dem ‘Kinderparadies’ abgeholt werden.« Wir hatten diese Ansage in den letzten Tagen oft gehört und

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