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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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wunderten uns nicht mehr. Der springende Punkt dabei war, dass es in den »Schönhauser Arkaden« gar keinen Laden gab, der »Kinderparadies« oder so ähnlich hieß. Das Kind musste sich in den unsichtbaren Räumen der vierten Dimension befinden.
    »Wir stecken alle irgendwo fest und wollen abgeholt werden«, philosophierte inzwischen mein Freund Juri. »Ich möchte beispielsweise aus meinem Wohnproblem zu Hause raus.«
    Schon früher hatte mir Juri von seinen Untermietern erzählt, den neun Mongolen, die seit ein paar Monaten in seinem Schlafzimmer lebten, kochten und sangen. Ein ausgeprägter Sinn für soziale Gerechtigkeit und ein gewisser finanzieller Engpass, seit seine Freundin ausgezogen war, erlaubten es Juri nicht, allein in einer schönen Zweizimmerwohnung das Leben zu genießen. Der Gedanke, dass so viele obdachlose Menschen draußen im Regen standen, während er mehrere Räume gleichzeitig bewohnte, quälte ihn. So war mein Freund auf die Idee gekommen, sein Schlafzimmer unterzuvermieten und er hatte eine Annonce in die »Zweite Hand« gesetzt:
    »Suche schöne junge Untermieterin für mein Schlafzimmer, Ausländerinnen sind herzlich willkommen.«
    Es meldete sich eine Frau aus der Mongolei. Sie war nach Berlin gekommen, um hier Theaterwissenschaft zu studieren und suchte ein billiges Zimmer. Juri war glücklich und sagte sorglos zu. Das Mädchen gestand ihm, verheiratet zu sein, ihr Mann wolle demnächst auch Theaterwissenschaft in Berlin studieren. Juri war zwar enttäuscht, konnte aber nichts dagegen einwenden. Jede Frau hat das Recht, verheiratet zu sein. Das Mädchen abzulehnen, einzig und allein, weil sie einen Mann hatte, wäre ihm peinlich gewesen. Das Schlafzimmer war klein, zwölf Quadratmeter, aber sie würden schon irgendwie damit klarkommen, dachte Juri. Hauptsache, die Hausverwaltung bekam nichts mit, Juri hatte nämlich nur die Erlaubnis für einen Untermieter.
    Am nächsten Tag zog das Mädchen ein, zusammen mit ihrem Mann und einem siebenjährigen Kind. Eine Woche später kam ihre Halbschwetser mit einem Sohn zu Besuch und dann auch noch der Onkel des Mannes. Alle blieben bis auf weiteres in Juris Schlafzimmer. Nach vier Wochen wohnten bereits neun Personen fest und drei bis vier mit Unterbrechungen in seiner Wohnung. Anfänglich versuchte Juri noch mit der Theaterwissenschaftlerin die Verwandtschaftsgrade der Gäste zu klären: Wer wessen Sohn war und welcher Mann zu welcher Frau gehörte. Aber irgendwann gab er es auf.
    Die Mongolen besaßen eine Unmenge von Luftmatratzen und hatten eine Elektroplatte zum Kochen im Zimmer installiert. Sie waren sehr freundlich und luden Juri regelmäßig zum Essen ein. Außerdem verschwanden sie oft zur Arbeit, doch was sie eigentlich machten, blieb Juri ein Rätsel.
    Im Laufe der Zeit wurde er voll in ihre Gruppe integriert und lernte sogar einige mongolische Lieder. Aber dann vertrug sich seine Freundin wieder mit ihm und war sogar bereit, zu ihm zurückzukehren, hatte jedoch bis dahin noch nichts von seiner Untermietergeschichte mitbekommen.
    »Ich kann doch die neun Mongolen jetzt nicht einfach so rausschmeißen, sie sind meine Familie geworden«, erklärte mir Juri traurig.
    Zusammen arbeiten wir an der Bar in den »Arcaden« einen klugen Plan aus: Juri sollte auch noch sein zweites Zimmer untervermieten und mit dem Geld eine neue, noch schönere Wohnung für sich und seine Freundin mieten. Dann könnte er die Mongolen ab und zu besuchen, mit ihnen zusammen singen und gleich kontrollieren, ob noch alles in Ordnung war.

Bücher aus dem Container
    An der Schönhauser Allee hat die »Wohltatsche Buchhandlung« einen guten Verkaufsplatz für sich erobert: zwischen dem Überraschungsbasar »Alles billig« und der »Knüllerkiste – Die ganze Welt für 99 Pfennig«. Die »Wohltatsche Buchhandlung« verscheuert nämlich mehrmals abgewertete Literatur. Die großen, mit Büchern gefüllten Container stehen auf der Straße und ziehen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Oft bleibe auch ich an den Containern stehen. Mir scheint, dass die stark reduzierten Bücher die Geschichte der modernen Zeit erzählen und den Interessenswandel der Gesellschaft widerspiegeln. Allein das große rote Gorbi-Buch, das früher stolze 100,– DM gekostet hatte, dann innerhalb von fünf Jahren fünfmal heruntergesetzt wurde und nun für einen Fünfer zu haben war, zeugt vom Ende einer Ära, als die Politik noch ein Hoffnungsträger für das Volk war. Nun liegt Gorbi in

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