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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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gerade »Formel 1 – Großer Preis von Spanien«. Meine Tante traute ihren Augen nicht: Der von ihr bestellte Kardiologe kuckte sich die Formel 1 im Fernsehen an statt ein EKG zu machen – und sie lag halb nackt auf ihrem Bett. »Vielleicht ist der Arzt wegen der Hitze durchgedreht oder er ist einfach Formel-1-Fan«, überlegte sie fieberhaft. Plötzlich schaltete der Fernseher willkürlich auf die »Gummibärchenbande« um. »Alles klar«, sagte der Kardiologe, zwinkerte meiner Tante zu, und holte einen großen Schraubenzieher aus seiner Tasche. Jetzt wurde meiner Tante endgültig klar, dass mit dem Arzt irgendetwas nicht stimmte. Als er anfing, ihren Fernseher auseinander zu schrauben, bekam sie es mit der Angst. »Vielleicht ist er gar kein Kardiologe, sondern ein Serienkiller, der sich nur als Kardiologe ausgibt, um alte kranke Frauen zu vergewaltigen oder zu ermorden, nachdem er ihren Fernseher auseinander genommen hat«, argwöhnte meine Tante und betrachtete den Mann misstrauisch. Er benahm sich sehr merkwürdig, summte vor sich hin und stöhnte manchmal. Beide Hände steckten im Fernseher. Meine Tante überlegte sich rasch einen Fluchtplan.
    Als der Mann auch noch seinen Kopf ins Innere des Gerätes steckte, sprang sie von ihrem Bett auf und lief aus der Wohnung – zu mir. Zum Glück liegen zwischen unseren beiden Quartieren nur fünfzig Meter: Sie musste bloß die Schönhauser Allee überqueren. Ich saß gerade zu Hause und tippte friedlich in meinen Computer. Es war ein heißer Tag, alle Fenster waren offen. Plötzlich hörte ich von draußen ein schreckliches Gerassel. Es klang, als wären zwei Straßenbahnen in beide Richtungen gleichzeitig entgleist. Ich kuckte aus dem Fenster und sah plötzlich meine Tante, wie sie halb nackt die Schönhauser Allee überquerte. Die Folgen ihres Auftrittes waren für den Verkehr katastrophal. Mehrere Autos bremsten hektisch, andere wieder gaben Vollgas. Ein Rollstuhlfahrer verpasste die Kurve, weil er meine Tante angestarrt hatte, und fuhr geradewegs auf die Fahrbahn. Mir standen alle Haare zu Berge. Doch meine Tante war dann sehr stolz auf sich, als sie mir atemlos erzählte, wie clever sie dem Serienmörder entwischt war. Sie hatte es sogar geschafft, ihn in ihrer Wohnung einzusperren. »Ruf sofort die Polizei«, bat sie mich. Bevor ich dem nachkommen konnte, klingelte das Telefon bei mir. Es war jemand aus der Reparaturwerkstatt, der wissen wollte, was ich mir dabei gedacht hätte, ihren besten Elektriker in eine derartige Falle zu locken und ob es sich dabei um eine Entführung handele. Verwirrt und verlegen hörte ich ihm nicht länger zu und legte einfach auf.

Die großen Brände auf der Schönhauser Allee
    Erstaunlich aber wahr: Nicht mal zwei Stunden brauchten unsere Nachbarn in diesem Jahr, um ihre Silvestermunition zu verballern. Besonders viel Mühe gaben sich heuer die Vietnamesen aus dem ersten Stock. Während die Deutschen sich damit begnügten, harmlose kleine Raketen von ihren Balkonen aus abzufeuern, nahmen die Vietnamesen die Sache ernst. Kurz nach Mitternacht trugen sie zu dritt einen großen Sack vors Haus. Aus der Ferne sah das Zeug in dem Sack wie getrocknete Möhren aus. Die Männer hängten den Sack an den einzigen Baum vor unserem Haus, zündeten ihn an und gingen in Deckung. Die Möhren verbreiteten erst einen gelben, stinkenden Nebel über der Straße, dann knallte es, und zwar so stark, dass die Balkone zitterten. Es klang wie der Ausbruch des Dritten Weltkrieges. Als sich der Lärm legte, hatten die anderen Nachbarn keine Lust mehr herumzuballern. Sie kapitulierten und verschanzten sich in ihren Wohnungen.
    Doch die Vietnamesen waren noch lange nicht fertig. Nach wenigen Minuten zerrten sie schon den zweiten Möhrensack aus dem Haus. Diesmal hängten sie ihn an eine Straßenlaterne, unser Baum hatte sich nämlich nach der Explosion in einen Busch verwandelt. Der neue Sack schien noch größer als der erste zu sein. »Jetzt lässt sich gut nachvollziehen«, meinte mein Freund Juri, »warum die Amerikaner trotz der besseren Ausrüstung damals den Krieg gegen dieses stolze kleine Volk verloren haben. Die Vietnamesen sind sehr entschlossen. Wenn sie einmal angefangen haben zu kämpfen, dann kann man sie bis zum Ende nicht mehr aufhalten.« Wir schlossen alle Fenster und Türen, bevor die Straßenlaterne gegen den Balkon kippte, und gingen zu unserem festlich gedeckten Tisch zurück. Dieses Jahr hatten unsere Frauen sich bei der Vorbereitung

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