Schoenhauser Allee
rechtzeitig, und versteckte sich auf der Männertoilette. Danach gingen wir zum »Otto-Bönicke«-Geschäft Zigaretten kaufen. Der Laden war leer. Überall in den Regalen lagen Waffen: bunte Gaspistolen mit und ohne Munition, Schlagstöcke aus Plastik, handliche Stromschocker, Luftgewehre, Handschellen, Bögen und frische Zeitungen zum Fliegen erschlagen. Nicole meinte, wir müssten unbedingt ein Luftgewehr kaufen, damit könnte man von unserem Balkon aus problemlos die
Pokémon
-Monster abschießen, wenn sie das Einkaufscenter verließen und nach Hause gingen. Ich widersprach dem Kind und erklärte, dass diese Monster niemals das Kaufhaus verlassen würden, weil sie dort zu Hause wären. Nur ein Weg führt für sie heraus – wenn sie von jemandem gekauft werden. »Dann kaufen wir sie«, erwiderte meine Tochter tapfer, »und anschließend erschießen wir sie alle draußen an der frischen Luft.«
Plötzlich kam ein Monster in den Laden. Es war wesentlich größer als die anderen und von Kopf bis Fuß in glänzendes Leder eingepackt. Die Haut in seinem roten Gesicht schälte sich heftig, keinerlei Gesichtszüge waren zu erkennen. Zwei kleine dreieckige Augen blitzten bösartig in die Gegend. Mit einer verrauchten Stimme forderte es den Verkäufer auf, ihm alle Messer zu zeigen, deren Klingen länger als 25 Zentimeter waren, dabei kehrte es uns den Rücken zu. Ich erkannte das Monster trotzdem sofort.
»Ein
Pokémon
-König«, staunte Nicole.
»Nein Liebling, das ist Mickey Rourke, ein berühmter Schauspieler aus Hollywood«, erklärte ich ihr.
Meine mutige Tochter klopfte dem Schauspieler ans Knie und fing ein Gespräch an: »Guten Tag, was hat Sie hierher verschlagen?«
Mickey Rourke hatte gerade ein riesengroßes Messer gekauft und wickelte es nun in eine Zeitung ein. Eine Minute irrten seine Augen umher, auf der Suche nach der Stimme, dann schaute er nach unten und entdeckte Nicole.
»Ich gehe auf Elefantenjagd«, antwortete er knapp, und lächelte meiner Tochter freundlich zu.
Wir gingen zusammen aus dem Geschäft. Die anderen Kinder und ebenso die
Pokémon
-Figuren machten uns ehrfürchtig den Weg frei, als sie Mickey Rourke sahen. Draußen sprang er auf seine Harley Davidson, die vor dem Eingang stand, und machte sich aus dem Staub.
»Gute Jagd«, rief meine Tochter ihm noch hinterher. »Und grüßen Sie Ihre Frau!«
»Woher weißt du, dass er eine Frau hat?«, fragte ich sie misstrauisch. »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«
»Je hässlicher ein Monster, desto verheirateter«, erwiderte meine dreijährige Tochter sorglos.
Wir gingen nach Hause.
Meine Schwiegermutter besucht uns auf der Schönhauser Allee
Die Verbindungen Russlands zum westeuropäischen Raum werden immer spärlicher. Es gibt nur noch einen russischen Zug, der am Bahnhof Lichtenberg ankommt. Der Zug wird in Brest aus Waggons verschiedener Farben zusammengestellt. Meine Schwiegermutter kam in einem blauen Waggon an, auf dem »Saratow« stand, obwohl sie eigentlich im Nordkaukasus lebt, tausende von Kilometern von Saratow entfernt. Im Nordkaukasus gibt es aber kein deutsches Konsulat, wie im Übrigen auch nicht im Südkaukasus. Es gibt in Russland meines Wissens nur vier deutsche Außenstellen, die Visa erteilen: eine in Moskau, eine in St. Petersburg, dann noch eine sibirische und eine vierte in Saratow für den Rest des Landes. Meine Schwiegermutter musste also erst einmal drei Tage durch das ganze russische Bermudadreieck fahren, bevor sie in Saratow ein Touristenvisum beantragen konnte.
Alle Abteile waren mit besoffenen Soldaten und Offizieren überfüllt, die aus Tschetschenien kamen und nach Hause fuhren. Sie konnten es noch immer nicht fassen, daß sie trotz allem überlebt hatten. Vor lauter Freude schütteten sie literweise Wodka in sich hinein und randalierten die ganze Zeit. Sie tanzten halb nackt herum und kotzten den Korridor voll. Die Zivilisten im Zug kuckten weg. Die Soldaten erinnerten sie an einen Krieg, den keiner wahrhaben wollte. Nur meine Schwiegermutter versuchte die ganze Zeit, sie zur Ordnung anzuhalten: »Ihr seid keine Krieger, Pissnelken seid ihr!«, appellierte sie an ihren Verstand, doch es war umsonst. Die Soldaten waren zu betrunken, um sich noch unter Kontrolle zu haben. Der eine fiel sogar mitten in der Nacht vom oberen Stockbett herunter, ohne wach zu werden. Auf dem Boden pinkelte er in die Pantoffeln meiner Schwiegermutter, und brach damit das letzte Tabu des zivilen Lebens.
Als er am
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