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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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zurück: »›Kastelator‹?«
    »Ich glaube, die Neswizkaja hat das gesagt. Oder so ähnlich. Was ist das?«
    »Wahrscheinlich ›Kastigator‹, das kommt von castigatio und bedeutet Züchtigung«, erklärte Fandorin. »Die sizilianische Polizei hatte eine Art G-Geheimorden geschaffen, der ohne Untersuchung und Gericht kleine Gauner, Landstreicher, Prostituierte und sonstige Parias der Gesellschaft beseitigte. Die Schuld an den Morden schoben die Mitglieder der Organisation auf die örtlichen Verbrecherbanden und rechneten grausam mit ihnen ab. Tja, da liegt die H-Hebamme nicht so falsch. Was Ishizyn betrifft.«
    Als Anissi seinen Bericht über das Experiment beendet hatte, sagte Fandorin ungehalten: »Tja, wenn es doch einer von den dreien war, kriegen wir ihn jetzt nicht mehr so leicht. Wer gewarnt ist, ist gerüstet.«
    »Ishizyn hat gesagt, wenn sich während des Experiments keiner verrät, dann läßt er alle drei observieren.«
    »Und was b-bringt das? Die Indizien, sofern es welche gibt, werden vernichtet. Jeder Triebtäter hat eine Art Sammlung, Souvenirs, an denen sein Herz hängt. Triebtäter, Tulpow, sind ein sentimentales Völkchen. Mancher nimmt sich einen Fetzen von der Kleidung der Leiche mit, mancher etwas Schlimmeres. Ein bayrischer Mörder, der sechs Frauen umgebracht hat, sammelte Bauchnabel, er hatte eine verhängnisvolle Schwäche für diesen harmlosen Körperteil. Die getrockneten Bauchnabel waren denn auch das wichtigste B-Beweisstück. Unser ›Chirurg‹ kennt sich in Anatomie aus, und jedesmal fehlt bei der Leiche irgendein inneres Organ. Ich nehme an, er nimmt es für seine ›Sammlung‹ mit.«
    »Chef, sind Sie sicher, daß der Mörder ein Mediziner ist?« fragte Anissi und weihte Fandorin in Ishizyns Fleischer-Theorie und seinen Plan ein.
    »Er glaubt also nicht an die englische Version?« wundertesich Fandorin. »Aber die Ähnlichkeit mit den Londoner Morden liegt auf der Hand. Nein, Tulpow, das hat ein und derselbe Mensch getan. Warum sollte ein Moskauer F-Fleischer nach London fahren?«
    »Trotzdem wird sich Ishizyn von seiner Idee nicht abbringen lassen, besonders jetzt, nach dem Fehlschlag des Experiments. Die armen Fleischer sitzen seit Mittag im Gefängnis. Sie bekommen kein Wasser, dürfen nicht schlafen. Und morgen früh wird er sie in die Mangel nehmen.«
    Schon lange hatte Anissi die Augen seines Chefs nicht so drohend funkeln sehen.
    »Aha, dann wird der ›Plan‹ schon in die Tat umgesetzt«, knurrte der Kollegienrat durch die Zähne. »Nun ja. Ich wette, daß heute nacht noch jemand ohne Schlaf bleibt. Und obendrein seinen Posten los wird. Fahren wir, Tulpow. Statten wir Herrn Ishizyn einen späten Besuch ab. Soviel ich weiß, hat er eine Dienstwohnung im Haus der Gerichtsbehörde. Das ist ganz in der Nähe, auf der Wosdwishenka. Marsch, Marsch, Tulpow, auf geht’s.«
     
    Das einstöckige Haus, in dem ledige und durchreisende Beamte des Justizministeriums logierten, war Anissi wohlbekannt. Es war ein langgestrecktes, im englischen Stil erbautes rotbraunes Gebäude mit separaten Eingängen für jede Wohnung.
    Sie klopften an das Kabuff des Pförtners. Er blickte verschlafen heraus, nur halb bekleidet. Lange weigerte er sich, den späten Besuchern mitzuteilen, welche Wohnung der Hofrat Ishizyn innehatte – zu zweifelhaft wirkte Fandorin in seiner malerischen Maskerade. Schließlich half ihnen Anissis Schirmmütze mit der Kokarde aus der Verlegenheit.
    Sie stiegen zu dritt die Stufen bis zur Wohnungstür hinauf. Der Pförtner läutete, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich.
    »Leonti Andrejewitsch werden mächtig böse sein«, erklärte er flüsternd. »Das müssen Sie auf sich nehmen, meine Herren.«
    »Tun wir, tun wir«, murmelte Fandorin und betrachtete aufmerksam die Tür. Dann stieß er sie leicht an, und sie ging lautlos auf.
    »Nicht verschlossen!« murmelte der Pförtner. »Nachlässig ist diese Sinka, das Dienstmädchen. Hat bloß Wind im Kopf. Wenn nun Räuber oder Einbrecher kommen. Wir hatten mal einen Fall …«
    »Pst!« machte Fandorin und hob den Finger.
    Die Wohnung war wie ausgestorben. Eine Uhr schlug Viertel.
    »Sieht nicht gut aus, Tulpow, gar nicht gut.«
    Fandorin ging in die Diele, zog aus der Jackentasche eine elektrische Lampe. Ein wunderbares Gerät, amerikanischer Provenienz. Man drückt auf eine kleine Feder, dadurch wird in der Lampe Energie erzeugt, und ein Lichtstrahl strömt aus. Anissi hätte sich auch gern so eine Lampe gekauft, aber

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