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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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hoch.
    Stenitsch!
    »Ich kaaann nicht!« heulte der Pfleger gellend. »Ich kann nicht mehr! Peiniger! Folterknechte! Weshalb quält ihr mich? Wofür? Herrgott, wofüüür?«
    Seine völlig wahnsinnigen Augen irrten über die Gesichter und verharrten bei Sacharow, der als einziger saß: schweigend, mit schiefem Lächeln, die Hände in den Taschen seiner Lederschürze.
    »Was grinst du so, Jegor? Das hier ist dein Reich, nicht wahr? Dein Reich, dein Hexensabbat? Du sitzt auf dem Thron, leitest den Ball! Triumphierst! Pluto, König des Todes! Und das sind deine Untertanen!« Er zeigte auf die verunstalteten Leichen. »In aller Pracht!« Im weiteren faselte der Verrückte völlig Zusammenhangloses. »Mir einen Tritt, unwürdig! Aber du, wessen bist du würdig? Worauf bist du so stolz? Sieh dich doch an! Aasgeier! Leichenfresser! Seht ihn euch an, den Leichenfresser! Und das Assistentchen? Ein schönes Pärchen! ›Hin zum Raben fliegt der Rab, Und demRaben krächzt der Rab: „Rabe, Rab, kannst du mir künden, Wo wir Atzung heute finden?“‹« 3 Und er verfiel in ein hysterisches Kichern.
    Der Mund Sacharows bog sich verächtlich herab. Grumow lächelte unsicher.
    Ein großartiges Experiment, dachte Anissi und blickte zu dem Untersuchungsführer, der sich ans Herz faßte, und zu den Verdächtigen: Eine schreit Verwünschungen, einer lacht schallend, und der dritte kichert. Hol euch alle der Teufel.
    Er drehte sich um und ging hinaus.
    Uff, die frische Luft tat gut.
     
    Er ging auf einen Sprung in seine Wohnung, um nach Sonja zu sehen und rasch einen Teller von Palaschas Kohlsuppe zu essen, dann eilte er zum Chef. Er hatte etwas zu erzählen und zu gestehen. Vor allem war er ungeduldig, zu erfahren, mit was für geheimnisvollen Dingen sich Fandorin tagsüber beschäftigt hatte.
    Bis zur Kleinen Nikitskaja war es nicht weit, höchstens fünf Minuten zu Fuß. Anissi lief die bekannte Vortreppe hinauf, drückte den Klingelknopf – keiner da. Nun, Angelina war in der Kirche oder im Krankenhaus, aber wo steckte Masa? Ein banges Gefühl durchzuckte Anissi: Während er einen schweren Schnitzer gemacht hatte, war der Chef vielleicht in Nöten gewesen und hatte nach seinem treuen Diener geschickt?
    Verzagt trottete er zurück. Auf der Straße jagte schreiend eine Schar Kinder vorüber. Mindestens drei Knirpse waren dunkelhäutig und hatten Schlitzaugen. Anissi schüttelte den Kopf, denn er mußte daran denken, daß Fandorins Kammerdienerbei den Köchinnen, Stubenmädchen und Wäscherinnen der Umgebung als Schatz und Herzensbrecher galt. Wenn das so weiterging, würde in zehn Jahren die ganze Gegend von kleinen Japanern wimmeln.
     
    Er kam nach zwei Stunden wieder, als es schon dunkel war. Die Fenster waren erleuchtet, und er stürmte freudig über den Hof.
    Die Hausherrin und Masa waren daheim, doch Fandorin war noch immer nicht da. Er hatte den ganzen Tag nichts von sich hören lassen.
    Angelina bot Anissi Platz an, brachte ihm Tee mit Rum und Eclairs, die er so gern aß.
    »Es ist doch Fastenzeit«, sagte er unsicher und atmete den göttlichen Duft des frisch gebrühten Tees ein, der durch das jamaikanische Getränk noch veredelt war. »Und dann Rum?«
    »Sie halten doch die Fasten sowieso nicht ein, Anissi Pitirimowitsch«, antwortete Angelina lächelnd.
    Sie saß ihm gegenüber, die Wange in die Hand gestützt. Trank keinen Tee, aß kein Gebäck.
    »Fasten soll keine Entbehrung sein, sondern eine Auszeichnung. Sonst will der Herr es nicht. Wenn Ihre Seele nicht danach verlangt, lassen Sie es bleiben. Erast Petrowitsch zum Beispiel geht nicht in die Kirche, erkennt die Kirchengesetze nicht an, aber das ist nicht schlimm. Hauptsache, Gott lebt in seiner Seele. Wenn der Mensch auch ohne Kirche zu Gott findet, soll man ihn nicht zwingen.«
    Da konnte Anissi nicht an sich halten, und der lang angestaute Kummer brach aus ihm heraus.
    »Nicht alle Kirchengesetze darf man umgehen. Auch wenn man selbst dem keine Bedeutung beimißt, sollte man dochan die Gefühle seines Nächsten denken. Sie, Angelina Samsonowna, leben nach kirchlichem Gesetz, halten alle Gebote ein, und die Sünde wagt sich nicht in Ihre Nähe, aber vom Standpunkt der Gesellschaft … Ungerecht ist das, quälend …«
    Er brachte es doch nicht fertig, es direkt auszusprechen, und verhaspelte sich. Aber die kluge Angelina hatte auch so alles verstanden.
    »Sie meinen, daß wir in wilder Ehe leben?« fragte sie ruhig, als ginge es um eine ganz alltägliche Sache.

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