Schönheit der toten Mädchen
Tolstow verdrossen. »Aber darf ich erfahren, woher Sie die Gewißheit nehmen? Die Ermittlung ist fehlgeschlagen. Der Beamte, der sie leitete, ermordet.«
»Bei uns in Moskau, Väterchen, werden hochwichtige Ermittlungen niemals nur eingleisig geführt«, sagte der Gouverneur belehrend. »Für solche Fälle habe ich einen besonderen Beamten, der mein Vertrauen genießt, den Eurer HohenExzellenz bekannten Kollegienrat Fandorin. Er steht kurz vor der Ergreifung des Verbrechers und wird den Fall in allernächster Zeit abschließen. Nicht wahr, Erast Petrowitsch?«
Der Gouverneur drehte sich hoheitsvoll zu dem an der Wand sitzenden Kollegienrat um, und Fandorins scharfer Blick las in den vorstehenden wäßrigen Augen seines hohen Vorgesetzten Verzweiflung und Flehen.
Er stand auf, zögerte ein wenig und sagte leidenschaftslos: »Es ist die reine W-Wahrheit, Euer Erlaucht. Genau am Sonntag denke ich den Fall abzuschließen.«
Der Minister sah ihn unter gerunzelter Stirn hervor an.
»Denken Sie? Bitte etwas ausführlicher. Was sind Ihre Versionen, Schlußfolgerungen, Maßnahmen?«
Fandorin würdigte den Minister keines Blicks, sondern sah nach wie vor nur den Gouverneur an.
»Wenn Wladimir Andrejewitsch es mir befiehlt, werde ich es darlegen. Wenn nicht, ziehe ich es vor, den Fall weiterhin vertraulich zu behandeln. Ich habe Grund zu der Annahme, daß es beim jetzigen Ermittlungsstand verhängnisvoll für die Operation sein könnte, den Kreis der in die Details eingeweihten Personen zu erweitern.«
»Was?« explodierte der Minister. »Wie können Sie es wagen! Sie haben wohl vergessen, wen Sie vor sich haben!«
Die goldenen Epauletten der Petersburger schaukelten vor Empörung. Die goldenen Schultern der Moskauer sanken ängstlich abwärts.
»Keineswegs.« Nun blickte Fandorin den Petersburger Würdenträger an. »Euer Erlaucht, Sie sind Generaladjutant der Suite Seiner Majestät, Minister des Innern und Chef des Gendarmeriekorps. Ich aber diene in der Kanzlei des Moskauer Generalgouverneurs und bin Ihnen daher nichtrechenschaftspflichtig. Wladimir Andrejewitsch, wünschen Sie, daß ich dem Herrn M-Minister den Stand der Ermittlung darlege?«
Der Fürst sah seinen Untergebenen prüfend an und kam offenbar zu dem Schluß: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
»Lassen Sie’s gut sein, Dmitri Andrejewitsch, soll er ermitteln, wie er es für richtig hält. Ich bürge mit meinem Kopf für Fandorin. Wäre es inzwischen vielleicht genehm, einem Moskauer Frühstück zuzusprechen? Der Tisch ist bereits gedeckt.«
»Nun, was den Kopf angeht, so nehme ich Sie beim Wort«, zischte Tolstow unheilvoll. »Wie Sie wollen. Am Sonntag, Punkt zwölf Uhr dreißig, werde ich vor Seiner Majestät über alles Rapport erstatten. Unter anderem auch darüber.« Der Minister erhob sich und verzog die blutleeren Lippen zu einem Lächeln. »Also dann, Euer Erlaucht, ich habe nichts gegen ein Frühstück.«
Der hochgestellte Mann wandte sich zum Ausgang. Im Vorübergehen streifte er den dreisten Kollegienrat mit einem sengenden Blick. Die ihm folgenden Beamten machten einen möglichst großen Bogen um Fandorin.
»Was ist in Sie gefahren, mein Bester?« flüsterte der Gouverneur seinem Untergebenen zu. »Haben Sie sich an Tollkraut überfressen? Das ist Tolstow persönlich! Er ist rachsüchtig und hat ein langes Gedächtnis. Er wird Sie beiseite schaffen, sobald er eine Gelegenheit findet. Und ich werde Sie nicht schützen können.«
Fandorin sprach seinem schwerhörigen Patron, auch flüsternd, ins Ohr: »Wenn ich bis Sonntag den Fall nicht abschließe, haben wir beide hier nichts mehr zu bestellen. Und was die Rachsucht des Grafen angeht, so brauchen Sie sichnicht zu beunruhigen. Haben Sie seine Gesichtsfarbe gesehen? Ein langes Gedächtnis wird er nicht mehr brauchen. Er wird schon sehr bald zum Rapport gerufen werden, aber nicht vor Seiner Majestät, sondern vor dem Allerhöchsten.«
»Dort kommen wir alle hin.« Dolgorukoi bekreuzigte sich fromm. »Wir haben nur zwei Tage. Legen Sie sich ins Zeug, mein Guter. Werden Sie es schaffen?«
»Ich habe mich aus einem überaus verzeihlichen Grund entschlossen, die Unzufriedenheit dieses seriösen H-Herrn zu erregen, Tulpow. Sie und ich, wir haben keine Version. Die Ermordung Ishizyns und seines Dienstmädchens ändert nämlich das ganze Bild.«
Fandorin und Tulpow saßen im Zimmer für Geheimsitzungen, das sich in einem abgelegenen Winkel der Gouverneursresidenz befand. Es war
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