Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
den Krieg hinter sich gelassen und wollen so schnell es geht nach Hause. Eigentlich war geplant, dass ihre ganze, inzwischen aufgelöste Lazaretteinheit gemeinsam reist. Aber das hat sich als unmöglich herausgestellt, in der Verwirrung und dem Menschengewimmel haben sie sich schnell verloren. Sie hat ihren kostbaren Sitzplatz aufgegeben, um einer schwangeren Frau zu helfen, der übel wurde, und musste dann große Strecken der Reise stehend verbringen, den schmerzenden Kopf gegen das kalte Korridorfenster gepresst. Als sie in Kiew umstieg und endlich wieder einen Sitzplatz fand, wagte sie zweieinhalb Tage lang nicht, sich von der Stelle zu rühren, aus Angst, ihren Platz zu verlieren, obwohl sie nichts zu essen und nur sehr wenig zu trinken hatte, und trotz des Krachs und des Geruchs der rauchenden, trinkenden, lärmenden Soldaten. Bis dahin war ihr das gesamte Gepäck gestohlen worden.
Es ist nicht einmal zwei Monate her, seit sie das letzte Mal in Moskau war, aber die Stadt hat schon eine spürbare Veränderung durchgemacht. Auf den verdunkelten Straßen patrouillieren schießwütige und machtbesessene Soldaten mit roten Armbinden. (Viele ihrer Bekannten ziehen sich jetzt absichtlich schlampig an, um die Aufmerksamkeit dieser Soldaten nicht auf sich zu lenken.) Nachts sind oft Schüsse zu hören, und in der Familie schläft man in voller Bekleidung, um das Haus schnell verlassen zu können. Die Nahrungsknappheit hat sich zur Hungersnot verschärft. Die garantierte Tagesration besteht aus fünfzig Gramm Brot oder zwei Kartoffeln. Nicht einmal mehr eine so einfache Ware wie Salz ist zu kaufen. Es gibt immer noch Restaurants, die geöffnet haben. Aber die Preise sind in astronomische Höhe gestiegen, und das Fleisch stammt in der Regel von Pferden. Die Atmosphäre ist erfüllt von Angst und Unsicherheit.
Florence ist niedergeschlagen und verwirrt, als sie in ihrer verschlissenen, schmutzigen Uniform aus dem Zug steigt:
Ich war zurückgekehrt wie ein Landstreicher, all dessen beraubt, was mir einmal lieb gewesen ist. Meine Arbeit beim Roten Kreuz war abgeschlossen. Meine Wanderungen zur Kriegszeit waren an ein Ende gelangt. In meinem Herzen und Gemüt herrschte eine Leere, die mich tief quälte. Das Leben schien auf einmal in eine Sackgasse geraten zu sein. Was die Zukunft bringen würde, ließ sich unmöglich vorhersagen. Alles erschien jetzt dunkel und leer.
181.
Sonntag, 27. Januar 1918
Michel Corday denkt über die Zukunft nach
Die heftige Kälte lässt allmählich nach – noch vor ein paar Wochen hatten sie achtzehn Grad minus. Die Behörden haben den Verkauf von Absinth verboten, und die Soldaten dürfen keine Halstücher mehr tragen. Torten dürfen nicht mehr gebacken werden (in den Teesalons wird nur noch Gebäck serviert), und die Brotration soll bald noch weiter reduziert werden, auf dreihundert Gramm pro Tag und Person. Es kursieren Gerüchte von bevorstehenden Unruhen in Arbeitervierteln, von baldigen feindlichen Bombenangriffen auf Paris und einer neuen deutschen Offensive an der Westfront. Man sagt auch, eine Gruppe Spione, die ausschließlich aus Frauen bestand, sei in der Pariser Theaterwelt enttarnt worden.
Corday schreibt in sein Tagebuch:
Am 31. Januar wollen die Werftarbeiter am Clyde streiken, «falls bis dahin keine Friedensverhandlungen eingeleitet worden sind». Hier erleben wir tatsächlich eine neue Herausforderung im Kampf zwischen Volk und Regierung – die Völker verlangen zu wissen, warum sie von den Regierenden gezwungen werden zu kämpfen. Es hat vier Jahre gedauert, bis dieser berechtigte Wunsch an die Oberfläche kam. In Russland ist er Wirklichkeit geworden. In England tritt er zutage. In Österreich bricht er hervor. Wir wissen nichts darüber, wie stark er in Deutschland oder in Frankreich ist. Aber der Krieg ist in eine neue Phase eingetreten: den Kampf zwischen der Herde und ihren Hirten.
182.
Dienstag, 29. Januar 1918
Richard Stumpf liest auf der SMS Helgoland einen Aufruf zum Generalstreik
Die SMS Helgoland liegt seit zwei Monaten wieder im Trockendock. Infolge der umfangreichen Arbeiten ist das Schiff völlig verschmutzt. «Nichts kann man anfassen, ohne nachher die Hände abwischen zu müssen.» Stumpf hat resigniert. Die Unzufriedenheit gärt im gemeinen Volk. Und natürlich wird an Bord viel über Politik geredet, aber seiner Ansicht nach sind die Matrosen viel zu uneins, viel zu leicht zu manipulieren, viel zu faul, viel zu dumm, um an der
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