Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
gegenwärtigen Situation etwas ändern zu können.
Stumpf dagegen hat sich zurückgezogen. Seine Energien haben endlich ein neues Ventil gefunden. Er flicht nun grobe Schuhe aus Hanf, die er an seine Kameraden verkauft. Die Geschäfte laufen hervorragend. Er hat in der Schiffsbäckerei eine kleine Schuhmacherei eingerichtet, um sich der Kontrolle der Offiziere zu entziehen. Der Kalender steht auf Winter, aber das Wetter deutet auf Frühling.
An diesem Morgen geschieht jedoch etwas, das geeignet ist, Stumpfs misanthropischen Pessimismus zu widerlegen. Es geht das Gerücht, dass an Bord sozialistische Flugblätter gefunden worden sind. Nach wenigen Minuten weiß die ganze Mannschaft, was los ist. Die Matrosen stehen in Gruppen zusammen, und die Pamphlete gehen von Hand zu Hand. Stumpf liest selbst eins, stellt fest, dass Verfasser und Druckort natürlich nicht angegeben sind und manches von dem, was behauptet wird, wahr ist, anderes aber «alberne Plattheiten und Phrasen» sind. Die Hauptparole lautet: «Auf, rüstet zum Generalstreik, wenn ihr nicht wollt, dass der Säbel regiert.»
Die Erschütterungen, die an diesem Tag Wilhelmshaven erreichen, haben ihr Epizentrum Hunderte von Meilen entfernt, in Wien. Mitte des Monats begann dort eine Welle von Streiks in den Rüstungsfabriken, als Protest gegen die gekürzten Brotrationen und die Fortsetzung des Krieges. Bald wurde die Lage so bedrohlich, dass die österreichische Kaiserfamilie samt bewaffneter Eskorte aus der Hauptstadt floh. Die Streikwelle breitete sich schnell aus, unter anderem nach Budapest und zur Flottenbasis in Cattaro, wo die Matrosen ihre Offiziere festnahmen und rote Fahnen hissten. Gerade hat sich die Unruhe in Österreich-Ungarn gelegt, dafür kam es gestern zu großen Streiks der Munitions- und Metallarbeiter in Berlin. Man ist unzufrieden über die Lebensmittelknappheit und empört darüber, dass die Militärs den Krieg einfach weiterführen. Die Wahrheit ist, dass Deutschland wirtschaftlich in die Knie zu gehen droht. Der zündende Funke war die Nachricht, dass die Friedensverhandlungen mit Russland in Brest-Litowsk gescheitert sind. 2 Die Streikenden fordern Frieden, einen Frieden, bei dem keine der Kriegsparteien Annexionen oder Reparationen hinnehmen muss, einen Frieden, der auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht.
An diesem Tag breitet sich der Streik in Deutschland aus. Über eine Million Menschen in München, Breslau, Köln, Leipzig und Hamburg legen die Arbeit nieder.
Gegen Mittag wird Antreten an Deck befohlen, divisionsweise. Die Offiziere sprechen zu ihrer Mannschaft. Einerseits dankt man dafür, dass die aufwieglerischen Pamphlete dem Kommandanten so schnell gemeldet worden sind, und die Matrosen werden aufgefordert, es auch in Zukunft so zu halten. Andererseits werden alle scharf vor der Teilnahme an Streiks und politischen Kundgebungen gewarnt.
Stumpf kann nicht recht absehen, was geschehen wird. Er weiß sehr wohl, dass die Unzufriedenheit allgemein verbreitet ist: «Wenn man diese Unzufriedenheit kanalisieren könnte, wäre ein großer Ausbruch praktisch unvermeidlich.» Zwar rumort es immer wieder unter Matrosen und Arbeitern, aber die Proteste haben weder Bestand noch Ziel. Nach kurzer Zeit lösen sich die Energien in Luft auf. Das ist seine Erfahrung. Wenn er sich die Werftarbeiter an Bord ansieht, scheint alles wie immer zu sein. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie das Werkzeug aus der Hand legen wollen, ja, sie scheinen sich nicht einmal vor der Arbeit drücken zu wollen. Stumpf hört jedoch einen Arbeiter sagen: «Morgen ist es mit der Klopperei vorbei.» Er vermutet, dass mit «Klopperei» der Krieg gemeint ist.
Am nächsten Tag wird bekanntgegeben, dass kein Landurlaub mehr gewährt wird, mit dem Hinweis auf die Unruhe im Lande. Gegen Mittag legen fast alle Werftarbeiter an Bord ihr Werkzeug nieder und verlassen das Schlachtschiff. Matrosen rufen ihnen ermunternd nach und raten ihnen, «ja nicht wiederzukommen». Die Sonne scheint, und die Luft ist frühlingshaft warm.
***
Am selben Tag nimmt Harvey Cushing in Wimereux am Begräbnis des kanadischen Arztkollegen John McCrae teil. Was McCrae berühmt gemacht hat, ist nicht die Leitung des 3rd Canadian General Hospital, sondern ein Gedicht. Es heißt «In Flanders Fields», und fast jeder kennt seine berühmten Anfangszeilen: 3
In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still
Weitere Kostenlose Bücher