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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Granaten, vereinzelt, völlig ziellos.

178.
    Neujahrsabend, Montag, 31. Dezember 1917
    Alfred Pollard spielt einigen Amerikanern in Le Toquet einen Streich
     
    Vielleicht ist es das Kind in ihm, das wieder auflebt, vielleicht seine zunehmende Irritation über die Amerikaner. Vermutlich ist es beides.
    Es ist spät am Abend, und Pollard schleicht sich vorsichtig in die langgestreckte Baracke, in der die amerikanischen Offiziere untergebracht sind. Er hat drei Kameraden bei sich. Alle Lichter sind gelöscht. Der Mondschein sickert durch die Fenster. Das Einzige, was zu hören ist, ist das Geräusch von Männern, die tief und fest schlafen, eingepackt in Schlafsäcke und Wolldecken.
    Die Amerikaner, ja. Pollard weiß wie die meisten, dass sie gebraucht werden. Die französische Armee hat sich nach den enormen Verlusten der letzten Jahre und den Meutereien im Frühjahr kaum wieder konsolidiert, die britische hat den Aderlass nach ihrer langen, verlustreichen und gescheiterten Offensive vor Ypern noch nicht verkraftet, die italienische ist immer noch geschwächt und instabil nach dem plötzlichen Kollaps bei Caporetto im späten Herbst. Und an der Ostfront deutet alles darauf hin, dass Russland sich aus dem Krieg zurückzieht. Die Bolschewiken haben die Macht in St. Petersburg übernommen, haben Friedensaufrufe verbreitet und mit den Deutschen einen Waffenstillstand geschlossen, der seit mittlerweile gut vierzehn Tagen gilt. Die deutschen Divisionen, die bisher im Osten gebunden waren, werden ohne Zweifel sämtlich in den Westen verlegt. Sicher braucht man die Amerikaner – ihre Soldaten, ihr Geld, ihre Industrie.
    Wenn sie nur nicht so, so … selbstsicher wären.
    Pollard hatte angenommen, dass den Amerikanern ihre Ratschläge willkommen wären, dass sie froh wären, von den teuer erkauften Erfahrungen der britischen Armee zu profitieren. Aber nein. Viele amerikanische Offiziere, denen er begegnet, sind entweder unheimlich naiv oder erstaunlich arrogant, sie glauben, dass sie von ihren Verbündeten nichts lernen können. Sie sind ja selbst seit über einem Jahr im Krieg. (Jedenfalls in einer Art Krieg, denn wie soll man ihre Scharmützel mit mexikanischen Banditen sonst nennen?  37 ) Die Neuankömmlinge tun sich beim Exerzieren auf dem Kasernenhof hervor, und ihre gemeinen Soldaten sind eifrig, gut gebaut und wohlgenährt. Das muss sogar Pollard zugeben. Aber die Amerikaner halten die einfallsreichen, komplexen und zunehmend erfolgreichen Angriffsmethoden der Briten – mit ihrem Einsatz verschiedener Waffengattungen, kriechenden Sperrfeuers und beweglicher, gut bewaffneter Unterabteilungen – für unnötig, gekünstelt und übertrieben.
    Manchmal, wenn sie die Amerikaner reden hören, haben die Briten den Eindruck, dass sie in den Kampf ziehen wollten, als zeige der Kalender noch August 1914, dass sie also im geschlossenen Glied und mit gezücktem Bajonett losstürmen wollen. Pollard kann darüber nur den Kopf schütteln. Die Amerikaner werden noch früh genug lernen, und sie werden es blutig bezahlen.
    Aber da ist noch etwas anderes. Der Zechbruder Pollard ärgert sich über das Alkoholverbot in der amerikanischen Armee und über die damit verbundene Heuchelei. Wenn sie unter sich sind, ist fast jeder amerikanische Offizier schnell bereit, eine Flasche hervorzuholen, die er in irgendeinem Koffer versteckt hält. Just an diesem Abend, ausgerechnet an Silvester, haben sämtliche neunzehn Amerikaner im Lehrgang alle Feierlichkeiten ausgeschlagen. Sie sind allesamt um zehn Uhr schlafen gegangen! Pollard findet, dass diese friedlichen Amerikaner eher Bankangestellten ähneln als echten Soldaten.
    Zurzeit ist Pollard in Le Tourquet, wo er mit anderen Offizieren verschiedener Nationalitäten lernen soll, mit dem leichten Lewis-Maschinengewehr umzugehen. Der Sommer ist für ihn ruhig verlaufen, der Herbst ebenso. Er hatte wechselnde Kommandos hinter der Front. Unter anderem musste sein Bataillon das Hauptquartier des Expeditionskorps in Montreuil bewachen und war im September an der Niederschlagung der einzigen kleinen Revolte beteiligt, die in diesem so revolutionären Jahr in den britischen Truppen aufgeflammt ist.  38 Pollard ist jedoch innerlich zerrissen. Einerseits fehlen ihm die Kämpfe, das macht ihn unruhig und verdrießlich. Anderseits hat er eingesehen, dass es stimmt, was andere schon früher behauptetet haben, er aber als Unfug abgetan hat, nämlich dass «die Jungs, die zu Hause ein Mädchen haben, das

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