Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
so-und-so, und fragte, wie die Lage sei. In dem Gespräch wurden unpassende Ausdrücke verwendet, die nicht wieder benutzt werden dürfen.
Seit Beginn der Beschießung von Paris hat Corday wieder einmal beobachten können, wie stark das Bedürfnis der Menschen nach Normalität und wie zweischneidig ihr Talent sein kann, sich einen Alltag unter extremen Verhältnissen zu schaffen.
Wenn Granaten fallen, laufen überall in Paris Polizisten herum und warnen die Leute, indem sie ihre Trillerpfeifen benutzen und auf kleine Trommeln schlagen. Ihr Anblick ruft aber eher ein Schmunzeln hervor als Unbehagen (es ist schwieriger, als man glaubt, gleichzeitig zu trommeln und in eine Trillerpfeife zu blasen), und Straßenjungen, Hausfrauen und vorbeigehende Soldaten lachen über sie. Dann folgen in der Ferne die Detonationen. Corday, der noch nie zuvor hat Granaten explodieren hören, beschreibt das Geräusch in seinem Tagebuch als «hohl, hart und hallend». Er erzählt, dass die Leute eines Morgens, als ein Projektil einschlug, in aller Ruhe fortfuhren, ihre Teppiche zu klopfen, und dass das Teppichklopfen das Echo des Knalls übertönte. Einer seiner Freunde hörte den Einschlag nicht, weil die Algerier, die inzwischen die Stadtreinigung übernommen haben, so viel Lärm beim Leeren der Mülltonnen machten.
Corday ist wie immer entsetzt über die Reaktion: «Fünfzig Meter von der Katastrophe entfernt sind die Leute damit beschäftigt, zu kaufen und zu verkaufen, zu lieben und zu arbeiten, zu essen und zu trinken.» Am Karfreitag schlug eine Granate in die Kirche am Place Saint-Gervais ein, während einer Messe: Die Kirche war überfüllt, da für die vielen Gefallenen der schweren Kämpfe in den vergangenen Wochen gebetet wurde. Das Dach stürzte ein, und fünfundsiebzig Menschen starben. (In der Regel fordern die zufällig hier oder dort einschlagenden Granaten viel weniger Opfer. Viele explodieren, ohne dass ein einziger Mensch verletzt wird. 15 ) Als das geschah, saß Corday gerade in der Metro, und als er aus dem Bahnhof Madeleine kam und auf die Straße trat, erzählte ihm eine unbekannte Frau, was gerade passiert war. «Ein paar junge Männer, die an der Treppe zum Bahnhof auf einem Geländer hockten, ergingen sich in lautstarken Witzen.»
An diesem Tag sitzt Corday in einem Café. Vier Männer spielen an einem Tisch Karten und kommentieren das Bombardement der letzten Tage:
Ich spiele Kreuz … Es gab vierzehn Tote. Trumpf … Und vierzig Verletzte. Herz! … Auch Frauen … Trumpf, Trumpf und ein Pik!
196.
Samstag, 18. Mai 1918
Herbert Sulzbach nimmt in Lemé eine Todesnachricht entgegen
Eine neue Großoffensive steht bevor. Fällt jetzt endlich die Entscheidung?
Herbert Sulzbach ist zum Bataillonsadjutanten befördert worden, und er hat alle Hände voll zu tun mit der Planung. Die neue Angriffsmethode erfordert nämlich äußerst exakte Vorbereitungen, und nirgendwo sind die Vorbereitungen so kompliziert und so umfassend wie bei der Artillerie. Alles muss genau stimmen, bis auf die Stellen hinter dem Komma, von Versorgung, Aufmarschwegen, Kommunikationsstrukturen und Gruppierungsplätzen bis hin zu Zielinventur, Feuerplänen, Munitionskalkulationen und Zeitberechnungen. Die Formeln und Abkürzungen haben sich zu einem unverständlichen Fachjargon entwickelt: Ika, Ika a, Ika b, Ika bII, Aka, Feka, Deckzeit, Klarzeit, x+12, x+24, x+37, x+95 bis x+115, Rohrverbrauch, z-Linie, w-Linie, x-Linie, y-Linie, v-Linie. (Ein interessantes Detail: Als Decknamen einer Reihe von Artilleriegruppen werden jüdische Vornamen verwendet: Judith, Nathan, Moses, Kain, Abel.)
Die Arbeit macht Sulzbach Spaß. Die letzten Wochen sind ziemlich ruhig gewesen, und er hat Zeit gehabt, sich in seine neue Aufgabe einzuarbeiten. Doch auch wenn es ruhig war, heißt das nicht, dass sie untätig wären. Es gab gemeinsame Übungen mit der Infanterie, die Artillerieoffiziere wurden in den neuesten Schießmethoden gedrillt, und die Mannschaft hatte Lauftraining. Die Moral ist gut. Sulzbach selbst ist in ausgezeichneter Stimmung und davon überzeugt, dass der Sieg nahe ist. Er hat beinahe grenzenloses Vertrauen in den großen Architekten der Offensive, Ludendorff. 16
Am Abend erscheint ein Unteroffizier. Er ist auf Heimaturlaub gewesen und hat einen Brief für Sulzbach mitgebracht.
Er öffnet ihn.
Der Inhalt schockiert ihn.
Kurt Reinhardt ist tot. Er war Schütze in einem Aufklärungsflugzeug, und am 9. Mai wurde er bei
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