Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
einem Auftrag in der Nähe von Dunkerque abgeschossen. Sulzbach hat in den letzten Jahren viele Todesnachrichten erhalten, aber diese trifft ihn am härtesten. Kurt tot? Kurt war sein ältester und bester Freund, ein Seelenverwandter. Und auch nachdem Kurt die Batterie verlassen hatte, haben sie über all die Jahre engen Kontakt gehalten und sich so oft wie möglich getroffen. Kurt tot?
Sulzbach weint.
Er hat bisher noch kein einziges Mal geweint, während des gesamten Krieges nicht. Nicht einmal, als sein Schwager bei der Seeschlacht von Helgoland mit der Ariadne unterging – und das geschah schon im August 1914, als der Tod noch nicht zur Dutzendware geworden war.
Traurig und niedergeschlagen wandert Sulzbach in der Mainacht umher. Die Gedanken kreisen in seinem Kopf. Er denkt an Kurts Mutter, die jetzt ihren Mann und ihren einzigen Sohn im Krieg verloren hat. Er denkt an Kurts letzten Brief, in dem er ihm stolz mitteilte, dass er das Eiserne Kreuz erhalten habe, nachdem er in einem Luftkampf über Flandern ein britisches Jagdflugzeug abgeschossen hat, während er sich gleichzeitig, auf eine für sein sanftes Wesen charakteristische Weise, beinahe dafür entschuldigte, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach ein Menschenleben ausgelöscht hat. Sulzbach geht in der schönen Mainacht auf und ab und denkt, dass Kurt nie wieder eine schöne Mainacht erleben wird. Und er denkt, dass Kurt auch den endgültigen Sieg nicht mehr miterleben darf. Der so nahe ist.
Später kehrt er in seine Unterkunft in Lemé zurück. Dort holt er alle Briefe von Kurt hervor und liest sie.
197.
Sonntag, 19. Mai 1918
Willy Coppens schießt seinen fünften Beobachtungsballon ab
Das Wetter ist schön. Willy Coppens fliegt nach Houthulst, wo er von einem deutschen Beobachtungsballon weiß, den er abschießen will. Wenn es ihm gelingt, wird dies sein fünfter Luftsieg sein, und in der belgischen Luftwaffe sind fünf Luftsiege nötig, damit man sich als Flieger-Ass bezeichnen darf. Coppens ist nicht allein. Er wird von einer kleinen Gruppe von Flugzeugen seiner Schwadron begleitet, die ihn vor deutschen Jägern schützen sollen. (Wenn ein Ballon angegriffen wird, sieht man es selbst aus großer Entfernung. Der Himmel füllt sich mit Explosionen der umliegenden Luftabwehrbatterien, und feindliche Flugzeuge stürzen dann sofort zum Schutz des Ballons herbei.)
Sie erreichen die Front bei Diksmuide, und dort sehen sie eine feindliche Flugpatrouille auf südlichem Kurs. Coppens und seine Eskorte schwenken in ihre Richtung. Aber die deutschen Maschinen scheinen an einem Kampf nicht interessiert zu sein und fliegen einfach weiter. Er sieht den Ballon. Das Feuerwerk der Luftabwehr blüht am Himmel auf.
Um 9.45 Uhr taucht Coppens zu dem Ballon hinab und schießt ihn in Brand.
Als er landet, ist er sofort von den anderen Piloten umringt, die ihm gratulieren wollen. Und nicht nur das: Der Trubel lockt auch einige der vielen Hunde der Schwadron herbei, den Foxterrier Biquet, den Schäferhund Malines und den Cockerspaniel Topsy. Später am Tag werden Coppens und ein weiterer Pilot der Schwadron ins Hauptquartier in Houthem gerufen, wo der Chef der belgischen Luftwaffe ihn dazu beglückwünscht, dass er jetzt ein Flieger-Ass ist. Als Coppens zurückkehrt, fliegt er gegen halb sieben noch eine Patrouille über der Frontlinie mit.
An diesem Abend wird sein Name zum ersten Mal im offiziellen belgischen Pressekommuniqué erwähnt. Coppens ist stolz und aufgeregt. Denn er weiß, dass diese Meldung überall hinter der Front angeschlagen und sowohl in der einheimischen als auch in der ausländischen Presse veröffentlicht wird. Er fährt nach De Panne und mischt sich unter die Leute, die vor den Anschlagtafeln stehen und das letzte Kommuniqué studieren. Er spricht selbst von der «kindlichen Freude», die er empfand, als er hörte, wie die Soldaten das dort Gedruckte laut lasen und dann auf seinen Namen stießen, seinen ! «Aber das war am Anfang, bevor ich mir etwas darauf einbildete, und bevor ich bekannt wurde.»
***
Am selben Tag sieht Richard Stumpf, wie ein Kriegsschiff für Pfingsten geschmückt wird. Er schreibt ins Tagebuch:
Ein paar Schritte von hier entfernt liegt der kleine, dem Munitionsdepot gehörige Dampfer Germania . Seine Mastspitze schmückt ein großer Strauß Birkenzweige. Auch rings um die Reling und auf den Aufbauten, überall zittert maienfrisches Grün. Nicht ganz unpoetisch, denke ich mir, sind die Menschen nach vier
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