Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
überhaupt, denn so ist die Stimmung allerorts in diesem Europa, das erschöpft ist, ausgemergelt, geschwächt und enttäuscht nach bald vier Jahren Krieg – vier langen Jahren, in denen alle Versprechen auf baldige Siege und alle Hoffnungen auf rauschhafte Erneuerung sich in ihr Gegenteil verkehrt haben. Lobanov-Rostovskij ist noch nicht lange in dem großen Lager bei Laval, wo die russischen Truppen der Westfront zusammengezogen worden sind, aber er hat die Zeichen erkannt: «Die Seele des Bataillons war in Gefahr, sich anzustecken.»
Was eigentlich nicht sehr verwunderlich ist. Erstens ist Russland kein kriegführendes Land mehr: Vor einem guten Monat ist der harte Frieden in Brest-Litowsk zwischen den bedrängten Bolschewiken und den siegreichen Deutschen unterzeichnet worden. 12 Im Moment gibt es eigentlich keinen Grund, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Als das Bataillon aus Saloniki hier ankam, quoll das Lager schon über vor demoralisierten und aufrührerischen russischen Truppen, Teilen des russischen Korps, das schon früher in Frankreich stationiert gewesen ist. Die Begegnung mit ihnen hat natürlich ihre Wirkung auf die Neuankömmlinge nicht verfehlt. Außerdem ist es nicht weit nach Paris, und die Truppen sind sehr empfänglich für die Agitation der vielen radikalen Emigrantengruppen in der Hauptstadt.
Es hat so manchen besorgniserregenden Vorfall gegeben. Während einer Parade wurde der General, der den Oberbefehl über alle russischen Truppen innehat, mit einem schweren Knüppel beworfen. Ganze Züge sind plötzlich in den Streik getreten. Und ebenso wie in Saloniki erhalten die Offiziere anonyme Morddrohungen.
Heute kommt es zum Höhepunkt. Das Bataillon soll nämlich zum ersten Mal an die Front. Als Lobanov-Rostovskij an diesem Morgen den Platz erreicht, wo sich die Kompanie aufzustellen hat, ist er leer. Er hört, dass die Soldaten gerade eine Versammlung abgehalten und beschlossen haben, das Lager nicht zu verlassen. Lobanov-Rostovskij ist unruhig und nervös und droht fast zusammenzubrechen. Er begreift aber, dass – in seinen eigenen Worten – «alles verloren ist, wenn ich nicht etwas Drastisches tue». Was er tun soll, weiß er nicht, aber er befiehlt, seine zweihundert Soldaten aus den Baracken zu holen. Es dauert eine Weile, aber schließlich stehen sie da.
Lobanov-Rostovskij hält vor seiner Kompanie eine Ansprache. Er sagt, das Politische interessiere ihn eigentlich nicht, aber jetzt seien sie rein formal ein Teil der französischen Armee und hätten geschworen, bis zum Ende des Krieges mit ihr zu kämpfen. Es sei seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Kompanie an die Front gehe. Dann fragt er sie, ob sie bereit seien zu marschieren. Die Antwort folgt einstimmig: «Nein!»
Er weiß nicht, was er tun soll, also wartet er ein paar Minuten und stellt dann die selbe Frage noch einmal. Die Antwort ist wieder ein donnerndes Nein. «Mein Gehirn arbeitete fieberhaft, und ich sah die ganze Szene vor mir wie in einem Traum.» Verzweifelt begreift er, dass er sich selbst in eine höchst kritische Lage manövriert hat; eher aus Verzweiflung als aus Berechnung zieht er seinen Revolver – «ziemlich theatralisch», wie er später einsieht. Und dann spricht er folgende Worte: «Dies ist das dritte und letzte Mal, dass ich euch frage. Wer sich weigert, soll vortreten. Aber ich warne euch. Den Ersten, der das tut, werde ich erschießen.»
Es wird vollkommen still.
Lobanov-Rostovskij rechnet mit dem Schlimmsten. Wenn jemand vortritt, ist er dann wirklich bereit zu schießen? Ja, er kann nicht anders, nicht, nachdem er diese Drohung ausgesprochen hat. Das größere Risiko ist aber, dass sich die Soldaten einfach auf ihn stürzen und ihn lynchen. So etwas ist schon vorgekommen. In dem Falle will er den geladenen Revolver gegen sich selbst richten. «An die Sekunden des Schweigens, die folgten, erinnere ich mich als eine Art Halluzination. Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Was würde als Nächstes geschehen?»
Die Sekunden ziehen sich in die Länge. Mit jedem Moment, in dem nichts geschieht, jedem Augenblick, den die Soldaten zögern, kommt er einem Sieg näher. Das spüren auch die Soldaten, und das Schweigen, das erst aufrührerisch wirkte, wird jetzt kleinlaut. Jemand ruft aus dem Glied: «Wir haben nichts gegen Sie als Person, Hauptmann.» Lobanov-Rostovskij, immer noch mit dem Revolver in der Hand, verweist noch einmal auf Pflicht und Prinzipien. Weiter Schweigen. Dann wird per
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