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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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harten Kriegsjahren geworden. Würde sich sonst jemand die Arbeit machen und unter Lebensgefahr die dünne Mastspitze erklimmen?

198.
    Donnerstag. 23. Mai 1918
    Harvey Cushing kauft Zucker in London
     
    Das Krankenhaus hat die Anschrift 10, Carlton House Terrace, und liegt dicht bei Pall Mall mit Blick auf den St. James’s Park. Die vornehme Adresse verrät, dass es sich um eine der privaten Pflegeeinrichtungen handelt, die ausschließlich verwundeten Offizieren vorbehalten sind und von einer Frau aus der englischen Upperclass gegründet wurden, in diesem Fall Lady Ridley.  17 Cushing ist hergekommen, um einen Bekannten zu besuchen, den Flieger Micky Bell-Irving, der dort behandelt wird.
    Cushing ist in offiziellem Auftrag in London. Er soll eine Reihe hoher Vertreter des britischen militärischen Sanitätsdienstes treffen und mit ihnen über die Koordinierung der neurologischen Behandlungskapazitäten verhandeln. Er ist nicht gerade traurig darüber, Boulogne-sur-Mer verlassen zu müssen. Zwar ist die zweite deutsche Frühjahrsoffensive, die sich gegen Flandern richtete, abgeebbt, und an der Front herrscht eine gespannte Ruhe. Die deutschen Luftangriffe sind jedoch mit unverminderter Stärke weitergegangen; die Nacht vor Cushings Abreise nach England war wolkenlos und mondhell gewesen, und Boulogne-sur-Mer wurde massiv bombardiert.
    London ist für Cushing eine verwirrende Erfahrung.
    Obwohl bald Ende Mai ist, macht die Stadt einen grauen und deprimierenden Eindruck. Überall sieht man Invaliden. Es herrscht offenbar die allgemeine Ansicht, dass ohne den Kriegseintritt der USA der Kampf längst vorbei wäre. Gleichzeitig sind die Menschen viel offener geworden. Die gefürchtete britische Zugeknöpftheit ist verschwunden. Auf der Straße oder in der Untergrundbahn ist es immer wieder vorgekommen, dass Menschen – offenbar von seiner amerikanischen Uniform angezogen – an Cushing herantraten und ihm freundlich Hilfe anboten oder Dinge zu erklären begannen, die eigentlich keiner Erklärung bedurften.
    In London sind die Lebensmittel knapp geworden; es fehlt vor allem an Zucker und Butter, wie Cushing selbst feststellen musste. Heute Morgen, beim Frühstück in seinem Hotel, wurden ihm zu seinem Weißbrot zwei Klümpchen irgendeiner unappetitlichen, in Auflösung begriffenen Margarine serviert, und es gab keinen Zucker zum Kaffee. Dabei hat er in einem für amerikanische Militärangehörige reservierten Laden für ein paar Pence ein Kilo Zucker gekauft. Die Ware wurde diskret in einem Kasten überreicht, der zuvor «Fatima’s Cigarettes» enthalten hatte, er gab sie sofort an einen englischen Bekannten weiter. Alles ist zu kaufen, wenn man nur Geld und die richtigen Kontakte hat. Aber Cushing kann nicht erkennen, dass die allgemeine gesundheitliche Lage sich verschlechtert hätte. Die Menschen essen weniger und gehen mehr zu Fuß, und «ihrem Geist tut das sicher gut».
    Cushing betritt das Zimmer, in dem der Flieger liegt. Micky wurde nicht im Kampf verwundet, sondern verletzte sich, als er Kunstflug übte. Er hatte ein paar Loopings und Rollen gemacht, als plötzlich ein Flügel brach und die Maschine aus 1500 Metern Höhe zur Erde trudelte. Er überlebte wie durch ein Wunder, zog sich aber schwerste Verletzungen zu. Eins seiner Beine war so zerfetzt, dass die Ärzte es amputieren mussten.
    Micky sitzt auf seinem Bett, seine Hände umfassen den Beinstumpf. Er leidet unter furchtbaren Phantomschmerzen und ist stark narkotisiert. Doch er begrüßt seinen Besucher gewohnt charmant. Es dauert deshalb eine Weile, bis der Amerikaner begreift, dass der betäubte Mann im Bett ihn gar nicht erkennt. Später schreibt Cushing bedrückt in sein Tagebuch: «Jetzt ist er nur noch ein gequältes menschliches Wrack – wäre er doch nur gestorben.»

199.
    Donnerstag, 30. Mai 1918
    René Arnaud findet zurück zu seinem Regiment bei Villers-Cotterets
     
    Vor vier Tagen endete Arnauds Urlaub, und er verließ Paris, um zu seinem Regiment zurückzukehren – und zu seiner Kompanie, die er jetzt als frisch beförderter Hauptmann führt. Dies war jedoch leichter gesagt als getan, denn das Regiment ist nach Osten verlegt worden, in Richtung des neuen deutschen Durchbruchs. Vor einigen Tagen haben die Deutschen nämlich die dritte Phase ihrer Frühjahrsoffensive eröffnet, diesmal mit massiven Angriffen über die alten verwüsteten Schlachtfelder beiderseits des Chemin des Dames. Wieder waren die deutschen Erfolge groß. Sie

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