Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Handzeichen abgestimmt. Die Kompanie erklärt sich bereit zum Dienst an der Front. Unendlich erleichtert gibt Lobanov-Rostovskij den Soldaten für den Rest des Tages frei: Abmarsch morgen früh.
Als Lobanov-Rostovskij geht, bewegt er sich wie ein Betrunkener; der Boden schwankt unter seinen Füßen. Er begegnet einem seiner Offizierskollegen, der ihn erstaunt ansieht: «Was ist mit dir los? Dein Gesicht ist grün und lila.»
194.
Montag, 15. April 1918
Florence Farmborough erreicht Wladiwostok
Früh am Morgen fährt der Zug langsam in Wladiwostok ein. Durch das Fenster des Wagens sieht sie den Hafen, wo vier große Kriegsschiffe vertäut liegen. Auf einem davon weht die britische Flagge. Florence Farmborough empfindet große Erleichterung, als sie den Union Jack erblickt. Es ist, als löse sich plötzlich alle Anspannung, alle Mühe und dunkle Unruhe auf, allein durch den Anblick dieses Stückchens Stoff. Sie kann kaum an sich halten:
Welche Freude! Erleichterung! Geborgenheit! Sicherheit! Wer wird je verstehen, was diese wunderbare Flagge für uns Flüchtlinge symbolisiert hat, müde und schmutzig wie wir waren von der Reise? Es war, als hätten wir eine liebe, wohlbekannte Stimme gehört, die uns zu Hause willkommen hieß!
Vor siebenundzwanzig Tagen haben sie Moskau verlassen. Siebenundzwanzig Tage in einem knarrenden, schnaufenden Güterzug zusammen mit Fremden, meist Ausländern auf der Flucht nach Osten, in einem schmutzigen, unbequemen Waggon, der für Gefangenentransporte bestimmt war. Und obwohl die Kälte nur schwer zu ertragen war und sie zeitweise nichts zu essen und zu trinken hatten – eine Zeitlang gab es so wenig Wasser, dass es sogar verboten war, sich die Hände zu waschen –, hat sie doch schon Schlimmeres erlebt. Und ihre ordnungsgemäßen, mit Stempeln übersäten ausländischen Papiere haben ihnen an argwöhnischen Rotgardisten und herrischen Bahnbeamten vorbeigeholfen.
Der Entschluss zu reisen ist natürlich unausweichlich gewesen. Sie hatte nichts mehr zu tun, und die Lage in Russland und Moskau wurde immer unhaltbarer, angesichts von Hungersnot, Chaos und einem sich anbahnenden Bürgerkrieg. Trotzdem war der Entschluss nicht leicht, und vor der Entscheidung war sie in eine Art Depression verfallen. Eines Tages hatte einer ihrer Freunde sie angetroffen, wie sie dasaß und weinte, und sie hatte den Grund nicht erklären können, nicht einmal sich selbst gegenüber, weil es keine einfache Antwort gab. Sie hatte in ihren Tagebuchaufzeichnungen geblättert und noch einmal mit Schaudern oder Ekel verschiedene unangenehme Szenen durchlebt und sich gefragt: «War das wirklich ich, die das gesehen hat? War das wirklich ich, die das getan hat?» Und sie hatte an all die Toten gedacht, die sie gesehen hatte, bis hin zu dem allerersten, jenem kleinen Stallburschen in Moskau, der nicht einmal ein richtiges Kriegsopfer gewesen, sondern an einem Gehirntumor gestorben war, und sie hatte sich gefragt: «Wird man sich ihrer erinnern? Aber wer kann sich all dieser Tausende und Abertausende erinnern?» Als sie sich vor siebenundzwanzig Tagen in Moskau von ihren Freunden und ihrer russischen Gastfamilie verabschiedete, hatte sie sich abgestumpft und kalt gefühlt, und die Worte hatten nicht ausgereicht.
Sie verlassen ihren Waggon und machen sich auf den Weg in die Stadt. Auf den Straßen sieht sie eine bunte Mischung von Nationalitäten und Uniformen. Da sind Chinesen, Mongolen, Tataren und Hindus, Russen natürlich, Briten, Rumänen und Amerikaner, Franzosen, Italiener, Belgier und Japaner. (Diesen gehören zwei der großen Kriegsschiffe unten im Hafen.) Die ausländische Intervention in Russland ist nun im Gange, und was als ein Versuch begann, Russland im Krieg zu halten, wandelt sich in eine klare Frontstellung gegen die Bolschewiken in Moskau. Märkte und Läden sind mit Waren gefüllt. Es gibt sogar Butter zu kaufen. Im Konsulat angekommen, trifft sie auf einen hilfsbereiten Beamten, der ihr 20 Pfund überreicht, die ihr Bruder aus England geschickt hat. Auch ein Schiffstransport ab Wladiwostok sei zu erwarten; er kann nur nicht sagen, wann.
Sie genießt es, nun endlich wieder Weißbrot und Marmelade essen zu können.
***
Am gleichen Tag schreibt Harvey Cushing in sein Tagebuch:
Ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit, bei starkem Nordwind. Einzelne Flugzeuge kämpfen gegen ihn an, aber es sind nicht viele. Nur dazustehen und abzuwarten, ohne etwas zu tun zu haben, ist
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