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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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schreibt in sein Tagebuch:
     
Besondere Umstände haben es ihm ermöglicht, eine Machtposition einzunehmen, die er früher aus Prinzip verworfen hat, aber es ist traurig, diese Männer jetzt zu sehen, wie sie in ihren Autos herumfahren, wie sie sich in ihren Sonderzügen wichtig machen, wie sie ganz unverhohlen in ihrer Macht schwelgen.

19.
    Freitag, 11. Dezember 1914
    Kresten Andresen wird Zeuge der Plünderung von Lassigny
     
    Als sie Flensburg verließen, lag die Stadt unter einer dichten Decke von frisch gefallenem weichem Schnee. Das Ritual war das übliche. Frauen vom Roten Kreuz hatten ihn und die anderen Soldaten mit Schokolade, Keksen, Nüssen und Zigarren überhäuft und Blumen in die Gewehrmündungen gesteckt. Er hatte die Geschenke angenommen, aber die Blumen entschieden abgelehnt: «Noch bin ich nicht bereit für die Beerdigung.» Die Zugreise dauerte 96 Stunden, aber er schlief nur wenig. Teils aus Unruhe und Kümmernis, teils aus reiner Neugier. Meist hatte er einfach nur am Fenster des Abteils gesessen (sie brauchten nicht wie so viele andere in Viehwagen zu fahren) und alles, was er sah, mit den Blicken verschlungen: die Schlachtfelder um Lüttich, wo fast jedes Haus verrußt oder zerstört zu sein schien nach den schweren Kämpfen im August (der ersten großen Schlacht im Westen), die dramatische Landschaft und die vielen Tunnels im Maas-Tal, die schönen wintergrünen Ebenen im nordwestlichen Belgien, am Horizont die Mündungsfeuer und Explosionsblitze, Dörfer und Städte, die völlig unberührt schienen vom Krieg und im tiefsten Frieden lagen, und solche, die vom Krieg schwer gezeichnet waren und von seinen Gespenstern bevölkert. Schließlich hatten sie in Noyon im nordwestlichen Frankreich den Zug verlassen und waren im Mondschein nach Süden marschiert, auf einer Straße, auf der Artilleriegeschütze und Wagen und Automobile vorbeiratterten, während das Geräusch ferner Explosionen immer schärfer klang.
    Jetzt liegt das Regiment an einem Bahndamm gleich außerhalb der kleinen Stadt Lassigny in der Picardie in Stellung. Andresen hat zu seiner Erleichterung festgestellt, dass es sich, abgesehen vom unangenehmen, aber in der Regel wirkungslosen Artilleriebeschuss  34 , um einen ruhigen Abschnitt handelt. Der Dienst ist nicht allzu anstrengend: vier Tage im lehmigen Schützengraben, vier Tage Ruhe. Wachehalten und Warten, dazwischen eine durchwachte Nacht als Lauschposten zwischen den Linien. Die Franzosen liegen etwa dreihundert Meter entfernt. Getrennt werden die Kämpfenden nur durch einfache Stacheldrahtverhaue  35 und einen platten Acker. Dort stehen Hocken aus schlaffem, verrottendem Roggen – die Ernte von 1914. Sonst gibt es nicht viel zu sehen. Dafür umso mehr zu hören: das Tsji und Tsju der Gewehrkugeln, das Dadera-dadera der Maschinengewehre, das Pum-tsiu-u-i-u-upum der Granaten.  36 Das Essen ist ausgezeichnet. Sie bekommen zwei warme Mahlzeiten am Tag.
    Manches ist besser, als er befürchtet hat. Anderes schlimmer, als er geahnt hätte. Weihnachten rückt näher, und Andresen hat Heimweh, verstärkt durch den Mangel an Briefen aus der Heimat. Der kleine Ort, wo sie einquartiert sind, wenn sie nicht in der vordersten Linie stehen, liegt praktisch permanent unter Granatenbeschuss und ist deshalb schrittweise von den Bewohnern geräumt worden. Heute hieß es, die letzten Franzosen hätten ihre Häuser verlassen. Kaum waren die Zivilisten abgezogen, begannen deutsche Soldaten mit der Plünderung.
    In der Regel nehmen sie sich in den leeren, verlassenen Häusern, was sie wollen. Deshalb sind die Quartiere hinter den Linien und die Schutzräume der Schützengräben voller Raubgut aus französischem Besitz, von Holzöfen und weichen Betten bis zu Haushaltsgegenständen und schönen Sitzgruppen.  37 (In den Bunkern sind oft Sprüche an den Wänden zu sehen, ein populärer lautet: «Wir Deutsche fürchten nichts außer Gott und unserer eigenen Artillerie.») Als klar war, dass die letzten Häuser geräumt werden sollten, galt die übliche Ordnung: Erst durften die Offiziere zugreifen, dann die Mannschaft.
    Andresen ist mit gut zehn anderen Kameraden hingegangen, alle unter dem Befehl eines Feldwebels. Lassigny bietet einen zunehmend traurigen Anblick. Wo früher hohe weiße Häuser mit Vorhängen vor den Fenstern zu sehen waren, existieren nur noch regendunkle Haufen von Geröll, Ziegeln und zersplittertem Holz. Auf den Straßen liegen Kartätschenkugeln und Reste von Granaten.

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