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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Die kleine Stadt wird allmählich dem Erdboden gleichgemacht. Die Kirche ist eine leere, zerschossene Hülle. Im Innern baumelt die alte Glocke an ein paar losen Balken, bald wird sie herabstürzen und mit einem letzten gebrochenen Ton auf den Boden schlagen. An der Fassade der Kirche hängt ein großes Kruzifix, zersprengt von einer Granate. Andresen ist erschüttert:
     
Wie hässlich und rücksichtslos ist doch der Krieg! Die großen Werte werden in den Staub getreten: Christentum, Moral, Heim und Herd. Gleichzeitig redet man heutzutage so viel von Kultur. Man möchte den Glauben an die Kultur und [andere] Werte verlieren, wenn sie so wenig respektiert werden wie hier.
     
    Sie erreichen die Häuser, die gerade verlassen worden sind. Der Feldwebel, im Zivilberuf Lehrer, geht als Erster hinein. Er kramt eifrig in Schränken und Winkeln. Es gibt aber nicht viel mitzunehmen, das meiste ist schon ausgeplündert. Das Chaos ist unbeschreiblich. Andresen steht ein wenig abseits, die Hände in den Hosentaschen, fühlt sich mehr und mehr beklommen, sagt aber nichts.
    In der Eingangstür eines kürzlich ausgeräumten Ladens werden sie von einer Frau ertappt, gut gekleidet mit Jacke und Pelzkragen, aber ohne Hut. Sie wendet sich an die Soldaten, fragt, wo sie ihren Mann finden könne. Andresen antwortet, er wisse es nicht. Er streift ihren Blick, und der Blick ist düster, Andresen kann nicht genau erkennen, ob er Verzweiflung oder Verachtung ausdrückt, aber er selbst schämt sich und wünscht von Herzen, er könnte weit weglaufen und sich irgendwo verstecken.

20.
    Dienstag, 15. Dezember 1914
    Elfriede Kuhr hilft, auf dem Bahnhof von Schneidemühl Soldaten zu beköstigen
     
    Frostwolken, weißer Schnee, eisige Kälte. Viele kleinere Kinder frieren so sehr, dass sie keine Lust mehr haben, Soldat zu spielen. Elfriede, die Älteste, findet jedoch die besten Argumente. Es gehe darum, sich abzuhärten: «Schließlich frieren unsere Truppen an der Front viel mehr.» Der kleine Fritz Wegner ist aber sehr erkältet. Immer wieder muss sie ihm die Nase putzen, was sie nicht ganz ihrer Würde als Offizier der Truppe angemessen findet.
    Später geht sie zum Bahnhof. Ihre Großmutter arbeitet dort fast jeden Tag, als Freiwillige für das Rote Kreuz. In der Regel hilft sie mit, die Soldaten, die dort anhalten, zu beköstigen. Die Transportzüge rollen immer noch, Tag und Nacht: Waggons, beladen mit frischen, singenden Rekruten, fahren nach Osten, den Schlachten entgegen, Waggons mit stummen, verwundeten Soldaten kehren von dort zurück. Heute sollen mehrere Lazarettzüge eintreffen, es wird also sicher viel zu tun geben.
    Elfriede packt mit an, als sie – gegen die Vorschrift – dreihundert zivile Arbeiter mit Essen versorgen, die mit einem Zug aus Ostpreußen gekommen sind, wo sie geholfen haben, Schützengräben und andere Befestigungen zu bauen. Sie sieht die hungrigen Männer essen, schweigend und voller Angst, ertappt zu werden: Suppe, Brot und Kaffee; sie verschlingen rasch siebenhundert Scheiben Brot und schlüpfen dann wieder in den wartenden Zug. Sie hilft dabei, eilig neue Stullen zu schmieren. Die Wurst ist ausgegangen, also nehmen sie Schmalz, und die Erbsensuppe muss mit Wasser gestreckt werden, aber als der Transport mit den Verwundeten ankommt, hören sie keine Klagen.
    Gegen Abend wird sie losgeschickt, um mehr Wurst zu kaufen. Sie muss zwei Schlachter aufsuchen, bis sie das Nötige beisammenhat. Auf dem Rückweg trifft sie ihre Freundin Gretel:
     
Sie war gegen die Kälte so eingemummelt, dass eigentlich nur ihre Nase und die blauen Augen rausguckten. Ich behängte sie mit einem ganzen Kranz Knoblauchwürsten und rief: «Hilf mir tragen, damit du nicht die Faulkrankheit kriegst.»
     
    Die beiden schleppen auf dem Bahnhof große Kannen Kaffee hin und her. Gegen zehn Uhr am Abend erhalten sie ihre Belohnung: Wurstbrot und Erbsensuppe. Dann gehen sie nach Hause, völlig erschöpft, aber zufrieden. Draußen hat es kräftig zu schneien begonnen: «Es sah so hübsch aus, wie die Schneeflocken an den Gaslaternen vorübertrieben.»

21.
    Dienstag, 22. Dezember 1914
    Michel Corday wohnt der Eröffnungssitzung der Deputiertenkammer in Paris bei
     
    Regierung und Ministerien sind in die Hauptstadt zurückgekehrt, und die Deputiertenkammer tritt wieder zusammen. Als hoher Beamter eines Ministeriums darf er das Ganze von einem der Balkone aus verfolgen. Eine der Fragen, die diskutiert werden, lebhaft, bis auf

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