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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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aber er war durchaus ernst gemeint). Der Präsident verweist auf das höchste Kriegsziel, nämlich «den Albtraum aus der Welt zu schaffen, der im deutschen Größenwahn besteht». Corday schreibt: «So warnt er vor dem Verhängnis eines möglichen einseitigen Friedens und verurteilt unser Land zu einem langen Kampf, der fatal ausgehen kann.»
    Ausnahmsweise ist der Krieg sogar beinahe in Paris zu spüren.

49.
    Donnerstag, 30. Juli 1915
    Elfriede Kuhr lauscht nächtlichem Gesang in Schneidemühl
     
    Warme Luft. Dunkelheit. Spätsommernacht. Sie weiß nicht, warum sie aufwacht. Vielleicht wegen des hellen Mondscheins? Weil es heiß ist, schläft sie auf einer Liege draußen auf der Veranda. Alles ist vollkommen still. Nur das verlässliche Ticken der Standuhr im Wohnzimmer ist zu hören. Plötzlich hört sie Gesang, schwach, aber wohlklingend, vom benachbarten Bahnhof. Sie spitzt die Ohren, erkennt die Melodie nicht, lauscht auf die Worte. Sie hört, wie mehr und mehr Stimmen hinzukommen. Der Gesang wird lauter: «Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten, das man hat, muss scheiden.»
    Der Gesang steigt immer deutlicher zum sternklaren Nachthimmel auf, aber sie selbst versinkt mehr und mehr. Wir lassen die Kindheit immer nur widerwillig und schrittweise hinter uns, und jetzt, in diesem Augenblick, überfällt Elfriede jene Einsicht, von der sich ein Kind nie richtig erholt und die Erwachsene so oft trauern lässt. Und sie kauert auf ihrer Liege und weint:
     
Warum sangen die Soldaten in der Nacht? Warum gerade dieses Lied? Das ist doch kein Soldatenlied. Waren es überhaupt Soldaten? Brachten sie vielleicht Gefallene in Soldatensärgen in unsere Stadt? Waren Eltern, Witwen, Waisen, Bräute am Zug? Weinten sie ebenso wie ich?
     
    Dann ist ein Geräusch im Schlafzimmer ihrer Großmutter zu hören; als ob sich jemand schnäuzt. Elfriede steht auf, schleicht vorsichtig ins Zimmer hinein und fragt flehend: «Kann ich ein bisschen zu dir ins Bett?» Die Großmutter zögert erst, und hebt dann ihre Decke: «Na, denn komm!» Sie schmiegt sich in den Schoß der Großmutter, drückt den Kopf an ihre Brust und schluchzt. Die Großmutter presst die Stirn auf ihr Haar, und Elfriede spürt, dass auch sie weint.
    Sie entschuldigen sich nicht, sie stellen keine Fragen.

50.
    Sonntag, 8. August 1915
    Vincenzo D’Aquila wird in Piacenza ausgelacht
     
    Geruch von Kohlenrauch. Glühende Sonne. Staub. Niemand holt sie ab, als der Zug auf dem Bahnhof hält. Die ganze Stadt wirkt menschenleer. Die meisten scheinen sich in den Häusern verkrochen zu haben, um der schlimmsten Hitze zu entgehen. Durch enge, stickige Gassen bahnen sie sich ihren Weg zu den Kasernen, um sich dort zu melden.
    Ein wenig enttäuscht ist er doch, dass man sie nicht willkommen heißt, wenn schon nicht mit Begeisterung, dann wenigstens aus Dankbarkeit. D’Aquila und die anderen haben dem Atlantik und allen dort kreuzenden deutschen U-Booten getrotzt, um ihr Leben «für die Größe Italiens» einzusetzen. An einem frühen, klaren Sommermorgen hatte er sich in New York aus der Wohnung geschlichen, im Hausflur versteckt, bis der Vater gegangen war, und sich danach zum Hafen begeben. Dort wartete das Schiff, das ihn nach Europa bringen sollte. Und nicht nur ihn: rund eintausendfünfhundert Italo-Amerikaner, die sich der italienischen Armee anschließen wollten. Er erinnert sich daran, dass sich Menschen aller Art an Bord drängten: «Narren und Kluge, Starke und Schwache. Alle gesellschaftlichen Gruppen waren vertreten: Ärzte und Quacksalber, Juristen und Winkeladvokaten, Arbeiter und Nichtsnutze, Abenteurer und Vagabunden.» Er hatte auch, nicht ohne Verwunderung, bemerkt, dass viele sich in ihrem Eifer mit Stiletts, kleinen Maschinenpistolen und abgesägten Schrotflinten bewaffnet hatten. Ungeduldig war er über das frisch gescheuerte Vordeck gewandert und hatte darauf gewartet, dass das Nebelhorn ihr Ablegen ankündigen würde. Dass das Abenteuer beginnen konnte. Vincenzo D’Aquila hat dichtes, dunkles, lockiges Haar, ein offenes Gesicht, eine gerade Nase, sein Mund ist weich. Er macht einen unsicheren und etwas scheuen Eindruck.
    Die erste Enttäuschung stellte sich schon ein, als sie im sonnigen Neapel von Bord gingen. Er hatte sich einen begeisterten Empfang erhofft, «frenetische Hurrarufe, Kapellen, die spielten und schöne neapolitanische Jungfrauen, die Blumen streuten». Stattdessen wurden sie ohne Umschweife in ein bullig heißes

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